Suche löschen...
Leipziger Tageblatt und Handelszeitung
- Erscheinungsdatum
- 1909-03-24
- Sprache
- Deutsch
- Vorlage
- SLUB Dresden
- Digitalisat
- SLUB Dresden
- Rechtehinweis
- Public Domain Mark 1.0
- URN
- urn:nbn:de:bsz:14-db-id84535308X-190903240
- PURL
- http://digital.slub-dresden.de/id84535308X-19090324
- OAI
- oai:de:slub-dresden:db:id-84535308X-19090324
- Sammlungen
- Saxonica
- LDP: Zeitungen
- Zeitungen
- Strukturtyp
- Ausgabe
- Parlamentsperiode
- -
- Wahlperiode
- -
-
Zeitung
Leipziger Tageblatt und Handelszeitung
-
Jahr
1909
-
Monat
1909-03
- Tag 1909-03-24
-
Monat
1909-03
-
Jahr
1909
- Titel
- Leipziger Tageblatt und Handelszeitung
- Autor
- Links
- Downloads
- Einzelseite als Bild herunterladen (JPG)
-
Volltext Seite (XML)
4. Beilage Mittwoch, 24. März 1900. Feuilleton. Licht senden in die Tiefe des menschlichen Herzens — des Künstlers Beruf. Robert Schumann. * Lanz und Lranni. (Zur Psychologie der Tanzkunst und der Madame Magdeleine G.) Von Franz Servaes (Wien). In jedem Zeitalter hat die Kunst ihr besonderes Grenzgebiet zu verteidigen. Im achtzehnten Jahrhundert plagte man sich, ziemlich harmlos, damit ab, die Grenzen zwischen Malerei und Poesie abzustecken. Im neunzehnten hatte man damit zu schassen, Kunst und Wissenschaft auseinanderzuhaltcn, die fortwährend ineinander überströmen wollten. In unserer eigenen Zeit haben wir vor allem den Kampf zu sichren das; man Kunst nicht etwa mit — Krankheit verwechsele. Und diesmal ist's ein Krieg gegen zwei Fronten. Auf der einen Seite gegen demon strationswütige Mediziner, die sehr gescheit und sehr kenntnisreich sein mögen, nur leider von derart nnlünstlcrischer Empfindung geleitet sind, daß man sie direkt antikünstlerisch nennen mutz. Diese Leute haben ein großes Bcobachtungsmaterial aufgehäust, wonach Symptome, die sie bei Kranken konstatiert haben, sehr oft bei Künstlern wicderkehren; oder wonach gar Künstler in späteren Stadien an zerrüttctendcn, nervösen und geistigen Erkrankungen zugrunde gegangen sind. Auf der anderen Seite stehen, hiervon aufgestachelt, die künstlerischen Snobs. Außer stande, sich der auf sie einstürmendcn ärztlichen Argumentation erfolg reich zu widersetzen oder zu entziehen, machen sie aus der Not eine Tugend und schreien in Verzückung: „Ja, wir sind krank! Wir haben zerrüttete Nerven, einen von Nikotin, Absinth und Morphium ver nichteten Körper, ein halluzinierendes Gehirn!" Ober: „Wir sind sexuell abnorm, wir leiden an Kleptomanie, wir sind Veitstänzer und mediale Existenzen! Und gerade weil wir so sind, sind wir Künstler! Den Künstler erkennt man am Abnormen!" Gegen Mediziner sowohl wie gegen Snobs hat nun die Kunst ihr gutes Dascinsrecht zu verteidigen und vor allem zu erweisen, daß sie gesund sei. Ja mehr als das: daß in ihr eine Quelle der Gesundheit ströme, die mit ihrer Heilkraft die ganze Menschheit zu erfüllen vermöge. Wenn mein Freund Dr. Michael De Ruyter einmal erst sein Buch über „Gift und Krankheit im Haushalt der Natur" geschrieben und publiziert haben wird, wird man mit einem Schlage hierüber klarer sehen. Man wird vor allem erkennen, daß eine Steigerung der Gesundheit, d. h. der auf nervöser Anpassungsfähigkeit beruhenden individuellen Gleich gewichtslage und Leistungsfähigkeit, nur auf der Basis einer Ueberwin- Lung scheinbar krankhafter Antriebe und Phänomene zu erzielen sein wird: daß also die „Krankheit" der „Gesundheit" vorbcreiten hilft: und daß eine Gesundheit ohne zu überwindende Krankheitskeime — Stumpf heit ist. Der Akzent liegt überall ans dem Wort „Ueberwindung". Wer in eine höhere Gleichgewichtslage überzugehen vermag, muß vorher die aus der niedrigeren stammenden Hemmungen und Widerstände nieder- ockämpst und sich hierdurch eine gesteigerte seelisch-nervöse Freiheit und Beweglichkeit errungen haben. Tr. De Ruyter verficht nun die Ansicht, daß die Vorkämpfer auf dem Wege der Menschheit zur Erlangung einer gesteigerten Gesundheit eben — die Künstler sind. Daher treten bei ihnen Symptome auf, die bei anderen, denen das Ventil und die Ueber windung der schaffenden Künstlerkraft fehlt, als abnorm und pathologisch mit Recht bezeichnet werden; die aber beim Künstler gleichsam nur der Stachel zur Erringung von etwas Höherem sind. Natürlich gibt es auch tragische Künstlernaturen, die auf dem Wege zu ihrem Ziel verbluten müssen, und die, nachdem sie eine Zeitlang mit übermenschlicher Gesund heit gegen die ihnen drohenden Gefahren angegangen sind, dann doch der Umnachtung einer Krankheit anheimfallen. Die Beispiele sind bekannt. Sie zeigen nur, daß der Weg zum Künstlerruhme mit Drachenzähnen besät ist. Aber der Weg führt dennoch aufwärts, ins Land einer ge steigerten Gesundheit. * * * Diese vielleicht allzu knapp orientierenden Vorbemerkungen konnte ich mir nicht ersparen, um be; dem, was ich über einen speziellen Fall jetzt sagen will, verstanden zu werden. Ich will von der sog. „Traumtänzerin" Magdeleine sprechen, die man bekanntlich als ein pathologisches Phänomen ausposaunt hat und vie darum von dem einen gepriesen, von dem anderen aber aufs in grimmigste befehdet, verketzert nnd „entlarvt" wird. Ich bin der An sicht, daß diese Traumtänzerin Magdeleine ganz einfach eine große Künstlerin ist und wohl das einzige Genie der Tanzkunst, das in unseren Tagen lebt. Darum erscheint sie manchen pathologisch und wird von anderen wütend gehaßt. In der Tat kann man ihr wohl nur den einen Vorwurf machen, daß sie, um erfolgreicher lanciert zu werden, sich dem nicht widersetzt hat, daß mit ihr ein wissenschaftlicher Humbug getrieben werde. Doch dieser Vorwurf trifft sie nicht sehr tief. Denn wer sagt uns, ob Magdeleine um ihre Natur Bescheid weiß? Sie denkt »ich wahrscheinlich: „Stellt ihr Hypothesen auf, soviel ihr wollt, je toller, desw besser! Ich — tanze!" Also ich bin weit entfernt davon, an das Märchen vom magnetischen Schlaf, dem Magdeleine ihre regelmäßig vollführten Tänze zu verdanken habe, zu glauben. Nur halte ich die begnadete Künstlerin nicht deshalb für eine Schwindlerin oder erkläre sie für talentlos. So einfach liegen die Dinge hier doch nicht. Es heißt doch nicht: entweder magnetischer Schlaf — oder klares, betrügerisches Bewußtsein. Es ist doch sehr gut möglich, ich hoffe sogar zu erweisen: notwendig, datz es sich, um einen Zwischenzustand, und zwar ohne Dolus, handelt. Denn wennschon e;ne Künstlerin, als welche ich ja Magdeleine anspreche, eines in Selbstzucht erworbenen gestaltenden Bewußtseins nicht entratcn kann, so doch auch nicht jenes Zustandes von schöpferischer Dumpfheit, der dem Traumleben verwandt ist und seine Wurzeln oftmals weit ms Bereich unerforschter Seelentiefen senkt. Hier handelt es sich aber gar um eine Tänzerin, d. h. um eine Künstlerin, die mit ihrem Körper einen Empfindungsgehalt rhythmisch zum Ausdruck bringt — einen Empfindungsgehalt, der durch eine andere Kunst, die Musik, wie im rapiden Spiel zweier elektrischer Batterien in ihr geweckt und ausgetragen wird. Hier muß also das Unbewußte sehr stark mitbeteiligt sein; die rein nervöse Jnzitation und Umsetzung. Und damit diese Tätigkeit innerlich vorgehen und die von ihr auslausende Wirkung in Kraft treten könne, ist notwendigerweise eme gewisse Abgeschlossenheit gegen andere von außen kommende Wir kungen, also Smnesemdrücke, vorauszusetzcn, d. h. ein schlummerähn licher Zustand, der die Seele mit Traumeingebungen bewegt. Schon die gewöhnliche Tänzerin kennt diesen Zustand, ob auch m gering dosiertem Grade. Wohl keine junge Dame, die sich beim Walzertanz den Klängen der Musik und dem führenden Arm ihres Tänzers mit inniger Hingebung überläßt, ist von süßwiegender Traumbefangenheit frei. Nun denke man sich diese Eigenschaft gesteigert, durch unendlich viele Grade, mehr und immer mehr, bis ein Zustand erreicht ist, den man wohl mit Hypnose bezeichnen darf. Hat das Wort etwas Schrecken des? Ich gebrauche es trotzdem. Zunächst ist die Hypnose ein wissen schaftlich konstatierter und in Rechnung gesetzter Zustand. Sodann aber glaube ich, baß der mit diesem Wort bezeichnete Endzustand als psycho-physiologische Voraussetzung für eine ins Höchste und Tiefste ent- wickelte Tanzkunst nicht entbehrt werden kann. Ten alten Hellenen war der Tanz eine dionysische Kunst, eng verknüpft mit Rausch und Traum. Der wahre und echte Tänzer befindet sich hiernach in einem Zustande der Entrückung, welcher ihn die gemeine Erdenwirklichkeit vergessen läßt und ihm die Pforten aufreißt in die Lande einer mystischen Er leuchtung. Es handelt sich also hier um eine Art von Autohypnose, zu deren Erzeugung es der Faszination und Handstreichungen eines Mag- nctiseurs nicht bedarf, die vielmehr aus unbewußtem Wege und unwill kürlich zustande kommt, allein durch die innere Ekstase, die sich deS ge- samten Nervenapparates bemächtigt und auch über die Gliedmaßen und deren Bewegungen ihre Herrschaft erlangt. Es spricht für den Tief sinn der alten Griechen, daß sie mesem Entrückungszustand eine religiöse Deutung unterlegten und daß sie die Einwirkung eines Gottes hierbei mittätig glaubten. Begnügen wir unserseits uns mit der für uns greif, bareren Einwirkung der Musik, in der wir jenes orgiastische Elememt zu erkennen glauben, das den gleichsam außer sich gebrachten mensch lichen Organismus mit stachelnden Rhythmen und bewegter visionärer Erlenchtnng erfüllt. Stellen wir uns nun ein für musikalische Reizungen aufs äußerste empfängliches junges Menschenkind vor, dem die Sprache der Musik ganz unmittelbar in Blut und Nerven übergeht und die Phantasiekräste entzündet — und wir werden die Vermutung gewiß nicht von der Hand weisen wollen, daß ein derartiges innerlich zum Klingen gebrachtes und von süßer treibender Unruhe erfülltes Individuum sehr wohl in einen Leipziger Tageblatt. schwebenden Traumzustand geraten kann, der es zum Tanzen zwingt. Ich darf von mir jeldst bekennen, daß sich die Einwirkung der Musik auf mich in den Jahren der Halbreife nicht anders geäußert hat. Hörle ich Klavier spielen, gleichviel was — cs waren meist Mozartsche oder Beethovcnsche Sonaten —, so mußte ich tanzen, d. h. meinen von der Musik ausgepeitschten Körper rhythmisch und ausdrucksvoll bewegen, um die in mir erzeugte Gemütsspannung mimisch zu entladen. Wie anders muß nun die Wirkung erst sein bei einem hypnotisch veranlagten, körper lich aufs höchste geschmeidigen und mit tänzerischen Eingebungen ver- schwenderisch hcgnadeten Individuum. So denke ich mir, daß die halb wüchsige Magdeleine beim Anhören von Musik vor Entzückung in einen Trancezustand geriet, der ungekannte Kräfte in ihr ausweckte und ihre ganze künstlerilche Schöpferkraft stürmisch und unbezwinglich in Be- wcgung setzte. Und daß sie dann begonnen hat zu tanzen, zum Staunen, zur Bewunderung, doch gewiß mitunter auch »um Neid und Gespött derer, die ihr gerade zuschauten. Und daß das Kind, wenn die Musik schwieg, erst schwer und schmerzlich wieder zu sich selbst kommen mußte, ehe es sich entzaubert fühlte und G der wirklichen Welt wieder zurechtfand. Nun braucht bloß ein mit den neuesten wissenschaftlichen Salben ge schmierter, industriös angelegter Kopf hinznzukommen, und daS Wunder der „Traumtänzerin" ist sehr bald zuwege gebracht. Er wird die natüc- liche Tanzgcnialitä: und bis zur Autohypnvse gehende musikalische Ent rücktheit des jungen Weibes listig beobachtet und in der ihm geeignet dankenden Weise zu fruktifizieren beschlossen haben. An die Stelle un willkürlicher Autohypnose trat dann wvwl zunächst die klar gewollte, künstlich bervorgerufeue Hypnose, die alsdann mit effektvollerem Wort „inagnerischer Schlaf" benannt wurde. Es wird sich gezeigt haben, daß diese von außen geschaffene Unterstützung einer natürlichen Veranlagung sich sehr geeignet zeigte, die Kräfte des jungen Talentes systematischer und eindringlicher als bisher zu schulen, indem diese sich gewissermaßen um die Kraft des fremden, starken und bewußten Willens noch ver mehrten. Und dann wird eben „gearbeitet" worden sein, mit und ohne Hypnose, je nachdem wie es der „Lehrplan" gerade erforderte. Und sollte es dem Lehrer und Dresseur gelungen sein, in der genialen Schülerin die überzeugte Illusion zu erwecken, daß sie unter der Einwirkung geheim nisvoller Mächte, die sie in Schlaf und Traum wiegten, ihre spezifischen Kräfte reich und wundersam vermehrte, so wird dieser fromme Wahn ge wiß nicht unwesentlich dazu beigetragen haben, die innere Sicherheit und demnach auch die äußeren Fortschritte der jungen Künstlerin zu ver- mehren. Als es dann endlich so weit war, daß eine öffentliche Vorführung für gut befunden wurde, war das Märchen vom magnetischen Schlaf im Zirkel der Eingeweihten bereits derart befestigt, daß es für selbstver ständlich galt und als die treibende Ursache deS ganzen seltenen Phäno mens betrachtet wurde. Es wurde also beibehalten, sowohl aus Gewohn heit, wie um des äußeren Effektes willen. Innerlich notwendig, um die aut einstudicrte, künstlerische Leistung Hervorzurufen, war die Hypnoti sierung gewiß nicht mehr, indem die Künstlerin gewiß längst wieder aus sich selbst heraus die innere schöpferische Berauschung gefunden haben wird. Allein als bequeme?, stimmunggebendes Hilfsmittel, so wie etwa ein großer Schauspieler oder Sänger vor dem Auftreten ein Glas Ehampagner nicht verschmäht, wird die gewandte Beihilfe des Hypnoti seurs immer noch einen bescheidenen Zweck erfüllt haben. Tie wahre wirkende Kraft des Phänomens ist aber gewiß nichts anderes als die eigene geniale Naturanlage der schaffenden Künstlerin. Diese Auffassung hat sich in mir heransgcbildet, als ich in diesen ^.agen Madame Magdeleine in den Räumen der Wiener Sezession zum ersten Male tanzen sah. Durch geschickte Stimmen war ich vorher nicht eben günstig für die mir völlig unbekannte Künstlerin bearbeitet worden und ich ;aß da in der Stimmung eines Mannes, der halb mißmutig darauf wartet, wieder mal eine Enttäuschung zu den alten legen zu können. Aber schon nach wenigen Takten war ich gefesselt, und mein Strauben erlosch immer mehr, bls schließlich daS Urteil in mir seststand, daß ich noch niemals ein so wahres, ganz aus der Seele geborenes Tanzen gesehen habe; noch nie ein Tanzen, das in solchem Grade ein ins Mimische übersetztes „inneres Erlebnis" ist. Wie schwand da- gegen alles, was ich bis dahin halb widerwillig, bald lau als Tanzkunst gelten lassen mußte: die Lore Fuller, die eine geniale Farbcnfinderin ist und hierdurch den Mang-l an echtem tänzerischen Naturell bestechens zudeckt; die Isadora Duncan, die eine ausgezeichnete Professorin ist deren kühle Gelehrsamkeit aber fern von allen Quellen des schöpferischen Rauiches emporwuchs; oder gar die Schwestern Wiesenthal, anmutige und vorzüglich angezogene junge Wienerinnen, die aber wohl ewig Dilettantinnen bleiben werden. In Madame Magdeleine aber sah ich nun endlich die Düse der neuen Tanzkunst, die mich in anderthalb Sinn- den völlig gewonnen und überzeugt hat. Ja, ich sage: die Düse. Und nicht bloß um einen Höhengrad, auch, um eine innere Verwandtschaft damit auszudrücken. Das Traumhafte sich will es hier lediglich als natürlichen Zustand begriffen wissen und die ganze ekelhafte Plakatierung verwünschen und vergessens, also das Traumhafte steht um diese Künstlerin herum wie eine unsichtbare Wehr, die sie von allen unreinen Einwirkungen des Zuschauer raumes scheidet. Sie bewegt sich gleichsam in einem eigenen geweihten Bezirk, in den nichts eindringt als die Töne der Musik. Diese aber fallen gleich entfesselnden Fermenten in den bis bahn gebannten Körper. Sie durchrieseln ihn, durchbeben und durchjauchzen ihn, treiben ihn förm lich aus sich heraus, reißen ihn hinein in unbemmbare Bewegung. Bis in Fuß- und Fingerspitzen jagt die Musik, daß sie in ausdrucksvoll: Schwingungen geraten und bis in die letzten Nervenfasern hinein tanzen. Und der Körper biegt sich, nach vorn, nach hinten, bis zum Umfallen kühn, schnellt wieder zurück, jagt dahin, stockt, zaudert, erstarrt, löst sich in neue Bewegung — ganz wie die Wellen der einströmenden Musik es befehlen. Aber Wohl das Wunderbarste ist das Antlitz. Auch dieses tanzt. Es tanzt einen erschütternden, unendlich abwechslungsreichen Tanz der Seele. Nie zu vergessen, wie beim Heranwittern einer freudigen Melodie ein breiter Strahl des Glücks über diese Züge sich ausgießl und sie, deren intensiv slawischer Prägung cs an äußerem Wohllaut sonst gebricht, mit einer fast überirdischen Schönheit verklärt. Oder Schmerz taucht auf, füllt alle Falten mit düsteren Schatten, reißt imaginäre Thränenbäche aus den Augen und stürzt sich in einen Abgrund von bro delnder Verzweiflung. Ohne jede Schonung für die eigene Person spiegelt sich alles dieses in der Tänzerin ab, und wenn sie sich zu Boden wirft, so meint man, alle Knochen im ganzen Leibe krachen zu hören. Das alles geschieht wie in unwiderstehlichem Zwange, in raschestem Gleiten der Empfindungen, fast ohne Ucbergänge, in den jähesten Kon trasten, mit unerhörtester seelischer Biegsamkeit, mit einem zu grellster Wahrheit entflammten Ausdrucksvermögen. Es gibt hier kein Oben und kein Unten. Alles ist da. Tic simpelste, bäuerliche Primitivität, sie naiv sich gebärdet, hopst und springt; und ebenso die zarteste, ncrvisie Vibration, in der hundert schillernde Nuancen durcheinander huschen. Was aber das Erstaunlichste ist, selbst Witz und Humor sind gebieterisch da, wo die Sache sie erfordert. Und wie der Ausdruck sich der erhabensten Gebärde gewachsen zeigt, so schreckt er auch vor keinerlei Häßlichkeit und Grimasse zurück. Das alles wirkt die Musik in Magdeleine. Man erlebt gleichsam den Akt der Inspiration und der sofortigen künlerischen Zeugung. Ist das Traum, Hypnose, Krankheit? Es ist Genialität. „Krank wäre Magde leine Wohl bloß dann, wenn sie nicht tanzen dürfte. Indem sie aber tanzt — mag sie sich momentan auch aufbrauchen bis zum letzten — füll: sie sich an mit neuen Kraftspeichern strotzender verheißungsvoller Ge sundheit. Der Südpol entdeckt? Aus London wird eine Nachricht über den Kanal telegraphiert, die — wenn sie sich bestätigen sollte — einen großen Triumph der geographischen Wissenschaft bedeuten müßte. Tie „Pall Mall Ga zette" will erfahren haben, daß es der englischen Südpolar- cxpedition gelungen sei, den Südpol zu erreichen. Man muß diese Meldung freilich mit der nötigen Reserve aufnchmen und erst ihre Bestätigung von zuverlässigerer Seite abwarten, als die „Pall Mall Gazette" darstcllt. Die „englische Expedition", um die es sich der Depesche zufolge handelt, ist die Expedition des englischen Leutnants Shackleton, der diese Reise vor Jahren antrat. Wir nahmen Gelegenheit, Sven Hedin, den berühmten Tibet forscher, der augenblicklich auS Anlaß seines gestrigen Vortrages in Leipzig weilt, von der Aussehen erregenden Nachricht, die gestern in den späten Abendstunden eintras, zu verständigen nnd den Gelehrten um seine Meinung über die Möglichkeit und Richtigkeit der Meldung zu bitten. Sven Hedin hält es durchaus nicht für ausgeschlos sen, daß Shackleton mit seinen Gefährten den Südpol tatsächlich Rr. 83. 103. Jahrgang. erreicht habe. Seine Ausrüstung wäre eine vorzügliche gewesen. Auch in eine Art Schneeautomobil hat Shackleton bei seiner Expedition große Hoffnungen gesetzt, das ihn, wenn zu Schiff keime For:bewegung mehr möglich ist, über das Eis tragen soll. Aber wie gesagt: Man wird gut tun, die Bestätigung der Nachricht vorläusig erst noch abzuwarten. * * Alexander Girardi, der berühmte Wiener Künstler, der durch seine in den leyien beiden Spielzeiten in Berlin absolvierten längeren Gastipiele auch in Nordkeut'chland zu großer Popularität gelangt ist, wird am Leipziger Stadt theater ein zweimaliges Gastspiel, am 23. und 24. April 0. I., absolvieren. * Mistral über sein Denkmal. Ten fröhlichen Festtagen, denen jetzt die Provence enlgegengehtz der großen Mistral-Feier, die in der Ein weihung des von dem Dichter gestifteten Provence-Museums und in der Enthüllung eines Mistral-Denkmals gipfeln wird, sieht niemand mit gemischteren Gefühlen entgegen, als der große Dichter der „Mireille" 'elbsr, der bei aller Freude über seine Beliebtheit in seinem Vaterlande doch nur ungern sein eigenes Denkmal enthüllen sieht. Jean Ajalbert, der Konservator des Malmaison-Muieums, der dem Dichter bei der Er richtung seiner hochherzigen Stiftung mit Ratschlägen behilflich war, veröffentlicht jetzt im „Matin" einen hübschen Bries Mistrals, der sich mit der bevorstehenden Feier beschäftigt. „Tie Feierlichkeiten für das .'Ojnhrige Jubiläum von Mireille, die Einweihung deS Palais du Feli- brige werden Pfingsten stattsindcu." Er berichtet von der Räumung des alten Baues, den er für 40 000 Frank gekauft hat und der bisher ein Gymnasium beherbergt, erzählt daun, daß die Reparatur des alten Gebäudes bereits bezahlt ist: ^Es ist der Nobelpreis, der die^Kosten deckt. Die Arbeiten sind abgcschlvsicn und die provenqalischcn Sammlungen werden jetzt iiu neuen Heime installiert. Und nun beklagen Sie mich", fährt Mistral fort. „Lebend der Enthüllung meines Denkmals beizu wohnen, das ist der schlimmste Ziegel, der mir auf den Kopf fallen konnte. Wie gern gäbe ich all das hin für ein Frühstück mit zwei oder drei guten Freunden unter den Silbervavpeln an dem User der Rhone... Aber da schließlich doch alles sich bezahlt machen muß, wollen wir uns bescheiden, nnd" es lebe die Provence." * Tentschcr Künstlcrlmnv und Vi 'a Romana. Von hochgeschätzter Seite wird uns geschrieben: Ain Sonntag sand in Dresden die Jury statt für die 2. grapbitche Ausstellung des Deutschen Künstlerbunkes. Zugleich fand die Verteilung der Preite für die Billa Romana, Florenz Erledigung. Ter Vor stand des Vereins B. N. batte auf Antrag bereits Herrn Willi Geiger-München den Jahrespreis erteilt. Tie zwei Ausslellungspieise enisielcn auf^'aul Baum- Tresden und A. Schinnerer-Tennenhos bei Erlangen. In die engere Wahl für die Preise kamen die Herren Ubl-Traunsiein, Schmutzer-Wien, Busiert-Leipzlg, Wnlss-Ebdel'cn lei Hamburg, A. Henze-Stuttgart. Es waren 72 Anmeldungen für lie Preise eingegnngen. Tie Getnmteinlieserung war an 25E> Nummern. Die Ausstellung (Galerie Arnold) verspricht äußerst interessant zu wcrcen. Es dürften verschievene Neuerscheinungen sehr günstig aufaenommen werben und die Ausstellungsgegenstände waren durchgängig von außerordentlich lünstleritchem Niveau. * Tie Zeitschrift für Bücherfreitlive. Tie Gesellschaft der deutschen Bibliophilen schwebte in Gcsalr, ihr Organ, die Zeitschrift sür Bücherfreunde, zu Verlierern Fedor von Zvbeliitz, ter Begründer des Blattes, hat aus persönlichen Grünten die Redaktion niedergelegt, und daraufhin wollte der B>r!ag, Beiträgen und Klasiug in Leipzig, die Zeitschrift eingeken lassen. DaS wäre natürlich ein großer Verlust für die Lcnt'che Bibliophilie gewesen. In letzter Stunde dat sich jedoch ein Ausgleich gefunden. Hvfcat Dr. Baenich- Trugulin, der Besitzer der weltbekannten Drmkolfisin W. Drugulin in Leipzig, bat sich bereit erttärt, den Beklag zu übernehmen, währens die Herren Professor Tr. Georg Witkowski in Leipzig und Prof.ssvr Dr. Karl Schübdetops in Weimar üch in die Redaktion teilen uns das Blatt in bisherigem Sinne weiter- sühren werden. * Wie man Tiroler Altertümer fabriiiert. Aus Innsbruck wird ter „Frks. Ztg." geschrieben: Tie kommende Jahrhundertfeier der Tiroler Freibeils- lämpie von anno Neun, zu der man schon jetzt im ganzen Lande, auch im kleinsten Alpendörfchen seine Borbereitungen trifft, wird eine ungewöhnlich günstige Gelegenheit bieten, ein Schaugevränge historischer Waffen, Fabnen nnd Emblenie zu lehen. Jede Schützen- und Betcranenvercinigung wird mit den Fahnen und Kanonen vom Jahre 1809 aufmarschieren, und bei jedem patrio tischen Festspiel, wie es ja rast jeder größere Ort zu veranstalte» beabsichtigt, wird cs „historische Gegcnstänte" in Hülle und Fülle zu jchauen gcben. Man wird wieder staunen über den R.ichtum an Antiquitäten, den das Land Tirol aufweist — und dabei ganz vergesst», ein wie tleincr Prozentsatz davon echt ist und mit Fug und Recht Lie Jahrhundertfeier mitmacht. Mau mißverstehe uns nicht: was an Elinnerangen an die Kampfe des Jahres 1809 in'den verschietenen Museen oder giößcren patriotischen Korporationen ausbewahrt wird, ist wilklich echt, und das Innsbrucker Ferdinandeum z. B. hat La eine kaum mehr zu überbietende «amiiilung, Lie neben vielen Origiual- Fahneu und Waffen sogar die Stiefel und Barlbaare des Andreas Hofer enthält. Aber was bei Festzügen und „historischen" Schauspielen gezeigt oder manchmal auch ganz ini geheimen einem reichen Engländer oder Ameri kaner um schweres Gelb verkaufr wiro, ist meistens kaum bunkert Wo'' en, ge- schweige Lean hundert Fahre alt, wenn es auch mit tauschender Natürlichkeit nachgeahmt wurde. Wie inan Altertümer l erstellt? Das Rezept ist ungeheuer einsach. Fabrizieren wir z. B. eine echte Spingeser Fahne, die im Kriegsjahr 18> 9 alle Kämpfe gegen die Boyern uns Franzosen miteilebte: Wir nehmen eine neue Fadne, die wir vorerst ein wenig als Staubsetzcn benutzen, um die bellen Farben obzuschwächen, schmieren sie dann auf beiven Seiten kick mit Un- schlitt ein und legen sie auf den Dachboden in das Getreide. Binnen weniger als zwei Wochen haben Lie Mause in den uuschUttyalvgen Stoff so viele und so kunstvolle Löcher gefressen, Lay jeder aus mindestens huntert Jahre schwört. Tann wirb der Fetzen noch aus eiuenGartenzaun gehängt, wo Fran Sonne mit ihren Strahlen die letzte Arbeit besorgt undden Farben jenen altehrwürdigen Don verleiht. Die „historische" Spingeser Fahne braucht jetzt nur noch eine Stange, uin fertig zu sein. Komplizierter, weil langwieriger, ist Lie Herstellung alter Kanonen, wie sie beijpielswerse beim Wiener historischen Festzug zu sehen waren und wie sie fast jeder Tiroler Schicßslanb auszuweiseu hat. Mau niinmt ein alles hölzernes Bruunenrohr, schlägt tarum einen Blechmantel und süllt las Ganze mit einer tüchtigen Ladung groben Pulvers und «iueur Lehmpfropjei'. Tie Entzündung des PulverS gibt Lern ,,Ka» oneurohr" jene interessanten Sprünge i ns Ritzen, Lie auf ein patriarchalisches Alter schließen lassen. Tann verfertigt L.r eistbesie Dorsschlosser mit Benutzung von altem Eisen len rückwärtigen Verschluß, und die Rokarbeit ist vollendet. Alles aridere besorgt Multcr Natur. Zuerst wird Lie Kanone auf etliche Zeit in die — Jauchegrube gelegt, wo die schai fe, ätzende Flülsigkeit dem Werk sozusagen die letzte Feile gibt, und dann wirst man das Ganze einsach in irgenbeiue Hosecke und überläßt es den Wintec über dem Schnee. Wenn der Frühling kommt, braucht die Kanon« nur noch eine Lafette — gewöhnlich ein auf ähnliche Weise präpariertes Wagenrac- paar —, um beim nächsten „historischen" Festspiel große Bewuncerung zu er regen. Aehnlich wird bei der Herstellung anderer „historischer" Gegenstände ver fahren, und es gibt Orte in Tirol, die auf diesem Gebiet ein« förmliche Industrie ausweisen tönnen. Mancher Bauer lönnte davon erzählen, wie o't er ichon ein altes „Familienerbstück" verlaust hat, jene zerschlissene, von Kugeln zersetzte Fahne, die aus den Höhen von Spinges voranleuchlete, oder eine alte Feto- haubitze, Lie am Berg Jjel und bei Lcr Erllürmung Ler Hall.r Brück« Wunder tat. . . . * Eine „Große Oper" in Petersburg. In der russischen Hauptstadt hat sich soeben eine Gesellschaft gebildet, die sich die sofortige Errichtung eines großen modernen Opernhauses in Petersburg zum Ziele gesetzt Hal. Tas Kapital des neuen Unternehmens beläuft sich auf 5 400 000 .kk. Mit dem Bau der Oper wird noch im Laufe dieses Jahres begonnen; als Er öffnungstermin ist der Herbst 1910 in Aussicht genommen. Die Di rektion dieser Petersburger „Großen Oper" wird Alexis Maximowitsch Dawydow übernehmen, der bisher der Kaiserlichen Oper angehörte und als Regisseur sich besonders ausgezeichnet hat. Während sieben Monate im Jahre kommen Opern zur Ausführung; drei Monate sollen aus schließlich der Pflege des Balletts gewidmet bleiben; die übrigen zwei Sommermonate bleibt die neue Oper geschlossen. Bon finanziellen Sorgen wird die neue Direktion unabhängig sein, denn die Betriebskosten werden durch ein Komitee garantiert, dem eine Reihe der reichsten russi schen Kunstfreunde angehört. * Kleine Elnonik. Aus München meldet uns ein Vrivattelearamm: Nach Len Bereinigten Staaten von Amerika sind rin Jatne 1908 sür IV, Millionen Mark Oelgemälde aiisgefiibrt worden. Diese Ervortziffer ist bisher nock nicht erreicht worden. — Eine schwere Erkrankung Tolstois wird dem „B. T." aus Petersburg mitgeleilt. D>e letzten Nachrichten über Len Zustand Tolstois lauten beunruhigend. Es ist von neuem eine Benen- entzündung eingetrrteu. Dir Herztätigkeit soll keine ganz normale mehr fein. Ein Freund Tolstois, Tscberikow, der sich um Lie Herausgabe vieler Schriften Tolstoi- im Ausland verdient gemacht dat und in der Nähe Tolstois aus dem Lande lebt, ist vom Gouverneur in Tula aus dein Gouvernemeut ausgew-eien worden. — Die Jury der Großen Berliner Kunstausstellung 1909 bat in dieser Woche ibre kritische Tätigkeit begonnen. Bei der Konstituierung wurden die Maler Prof. Konrad Kiesel zum ersten Borfftzenden. Prof. Oskar Frenzcl -um zweiten Bornyenden, Maler Leonhard Sandrock zum ersten Sckrislsübrer und Bittkauer Borltzig »um »weiten Sckirist'übrer gewählt. Die Zahl der ein gereichten Ar'-eiten geht in dir Tausende, so daß di« Jury eine Arbeit von drei Wochen vor sich hat. Di« Eröffnung der Ausstellung findet am 1. Mai statt.
- Aktuelle Seite (TXT)
- METS Datei (XML)
- IIIF Manifest (JSON)