Das Atelier des Photographen. Zeitschrift für Photographie und Reproduktionstechnik. Heft 2. 1899. 1. Februar. THGESFR HGEN. ie älteren unter den Fachgenossen erinnern sich wohl noch der schönen Zeit vor der „Erfindung“ der Visitenkarte. Die Photographie war damals nicht ein Dutzendwerk, welches man seinen Freunden ebenso wie sonst eine andere Kleinigkeit bei irgend einer Gelegenheit zum Angebinde macht, sondern sie war ein Stück dekorativer Kunst. Die Photographieen wurden meist in grösserem Format gefertigt und dienten hauptsächlich als Wandschmuck. Die Erfindung der Visitenkarte gab zwar der Photographie einen ungeheuren Aufschwung, und von jener Zeit her datiert die ausserordentliche Zunahme der photographischen Anstalten. Durch sie wurde die Photographie allerdings in die breitesten Massen des Volkes getragen und selbst den ärmeren Bevölkerungsschichten zugänglich; aber sie ist auch unmittelbar der Grund des furchtbaren Ver falls geworden, welcher die Photographie verflacht und selbst in ihren besten Vertretern nicht gefördert hat. Wir haben schon oft ausgeführt und können es nur immer von neuem wieder holen, dass selbst der schaffensfreudigste und talentierteste Künstler bei einer Massenproduktion, wie sie heute vom Photographen verlangt wird, um nur ein kärgliches Leben zu fristen, bald vor dem geistigen Ruin steht und seine Produktivität allmählich abnehmen muss. Dieses alles kann absolut nicht bezweifelt werden. Es kann nur gefragt werden, warum nicht neben der Visiten karte die grösseren Photographieen wie früher auch in den besseren Häusern als Wandschmuck und als Kunstwerk angesehen werden, und warum das Publikum, vor allen Dingen das kunst sinnige, sich gegen die Photographie so sehr ablehnend verhält. Die Beantwortung dieser Frage kann im Zusammenhang mit der Erkenntnis einiger an derer Thatsachen nicht schwer fallen. In den fünfziger und sechziger Jahren war speziell in Deutschland auf vielen Gebieten, besonders in der breiteren Masse des besseren Publikums, ein ausserordentlicher Rückgang im allgemeinen Kunstverständnis zu konstatieren. Es war die Zeit, welche wir als die stillose bezeichnen könnten, eine Zeit, in welcher weder eigene Schöpfungen auf dem Gebiet der Kunstindustrie und des Kunstgewerbes auftraten, noch auch das Studium und die Liebe für Kunstschöpfungen älterer Perioden allgemeiner waren. In dieser Zeit konnte die Photographie, die in Bezug auf das Porträt vielfach damals unzweifelhaft schon auf der Höhe stand, welche sie heute im Durch schnitt noch nicht überschritten hat, sich den übrigen Erzeugnissen des damals kaum in seinen Ansätzen entwickelten Kunstgewerbes sehr wohl gleichberechtigt an die Seite stellen, vor allen Dingen, wenn man ihre Erzeugnisse mit den damals verbreiteten Produkten der graphischen Gebr. Taeschier-St. Fiden.