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02-Abendausgabe Leipziger Tageblatt und Handelszeitung : 10.04.1908
- Titel
- 02-Abendausgabe
- Erscheinungsdatum
- 1908-04-10
- Sprache
- Deutsch
- Vorlage
- SLUB Dresden
- Digitalisat
- SLUB Dresden
- Rechtehinweis
- Public Domain Mark 1.0
- URN
- urn:nbn:de:bsz:14-db-id84535308X-19080410022
- PURL
- http://digital.slub-dresden.de/id84535308X-1908041002
- OAI
- oai:de:slub-dresden:db:id-84535308X-1908041002
- Sammlungen
- Saxonica
- LDP: Zeitungen
- Zeitungen
- Strukturtyp
- Ausgabe
- Parlamentsperiode
- -
- Wahlperiode
- -
-
Zeitung
Leipziger Tageblatt und Handelszeitung
-
Jahr
1908
-
Monat
1908-04
- Tag 1908-04-10
-
Monat
1908-04
-
Jahr
1908
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Bezug»-Preis Mr Leipzig und Vorort« durch unsere LrLger uod Spediteure in» Hau» gebracht: «u»gabe L (nur morgen») vierteljährlich 3 M-, monaiUch I M.; Bu»gad, » (morgen» und abend«) viertel, jährlich 4.50 M., monatlich 1.50 M. Durch bi« »oft ,u beziehen: (2 mal täglich) innerhalb Deutschland» und der deutschen Kolonien vierteljährlich 5,25 M., monatlich 1,75 M. auSschl. Post, bestellgeld, sür Oesterreich S L 66 lr, Ungarn 8 L vierteljährlich. Ferner in Bel. gien, Dänemark, den Donaustaaten, Frank, reich, Italien, Luxemburg, Niederlande, Norwegen, Rußland. Schweden, Schweiz und Spanien. In allen übrigen Staaten nur direkt durch die Exped. d. Bl. erhältlich. Abonnement-Annahme: Uugustuäplatz 8, bei unseren Drägern, Filialen, Spediteuren und Annahmestellen, sowie Postämtern und Briefträgern. Di« einzelne Stummer kostet Ist stftg. ftkedaktton und Expedition: Iohanni»gasie 8. Delevboa Nr. 14692, Nr. 146«!, Nr. 146S4. Abend-Ausgabe 8. KWMr.Tllgtblaü Handelszeitung. Amtsblatt des Nates und des Nolizeiaintes der Stadt Leipzig. Anzeiqen.P'.eiS sür Inserate au» Lcwzig und Um,ebung di« 6gespaltene Petitzeile 25 Pt., stnanztelle Anzeigen 30 P>., Reklamen I M.; von au»wärt» 30 Ps., Reklamen 1.20 M.: vomAutland50Ps., finanz. An,eigen75Ps.. Reklamen 1.5ii M. Inserate v. Behörden im amtlichen Dell 40 Ps. Beilaqegebühr 5 M. p. Tausend exkl. Pest gebühr. ÄeschjstSanzeigen an bevorzugter Stelle im Preise erhöht. Rabatt nach Taris' Festerteilte Austräge können nicht zurück gezogen werden. Für da» Erscheinen an bestimmten Tagen und Plätzen wird keine Garantie übernommen Anzeigen-Annahme: Augustuöplatz 8, bei sämtlichen Filialen u. allen Annoncen- Expeditionen de» In- und Ausländer. Haupt-Filiale Berlin: Earl Duncker, Herzogi. Banr. Hosbuch- handlung, Lützowftraße Ist. (Telephon VI, Nr. 4-!03). Haupt-Filiale Dresden: Scestraßc 4, l (Telephon 4621). Nr. 1V0. Freitag 10. April 1908. 102. Jahrgang. Das wichtigste vom Tage. ' * In der sächsischen W a h I r e ch t s f r a g c ist es tatsächlich zu einer grundsätzlichen Verständigung zwischen Nationalliberalen und Konservativen gekommen, wenn auch ein eigentlicbes Kompro miß bis jetzt noch nicht abgeschlossen ist. sS. Letzte Tep.) * Das Kaiserpaar trifft heute in Korfu ein, wo es vom König von Griechenland und dem griechischen Kronprrnzen- paar erwartet wird. sS. Dtsch. R.) * Präsident Roosevelt erließ eine Spezialbotschaft an den Kongreß, in der er die Unterdrückung des Anarchismus fordert. sS. Ausl.) * Der König von Serbien hat der Auflösung der Skupfchtina zugestimmt. sS. Ausl.) * Aus Marokko werden neue Kämpfe gemeldet. sS. Ausl.) * In Teheran ist auf die Gattin des Derreichisch-ungarifchen Gesandten ein Attentat verübt worden. sS- Ausl.) Die Frankfurter Heiinarbeits- Ausstellung. Als im Jahre 1882 der Frankfurter Nationalökonom Dr. Gottlieb Schnapper-Arndt sein Werk: „Fünf Dorfgemeinden aus dem hoben Taunus veröffentlichte, als Ergebnis zweijähriger, sorgsamer Studien, da war für vie soziale Forschung mit einem Male völliges Neuland erschlossen. Bis dahin verbanv man mit dem Namen Heimarbeit meist nur vie Vor stellung an ivyllisch gelegene Dörfer des Thüringer Waldes und anderer Gebirgsgegenden, in welchen allerhand niedliches Spielzeug sür unsere Kleinen hergestellt wurde. Hier aber zeigte ein streng sachlicher Forscher, in welch ichlimmer sozialer Lage sich derartige Heimarbeiter befinden. Andere Gelehrte, wie Schmoller, Bücher, Weber, Stieda, Heinr. Koch d. I. u. a. folgten den Spuren Schnapper-Arndts und der Dichter Gerhart Hauptmann brachte 10 Jahre nach Schnapper-Arndt den schle sischen Heimarbeiter in „den Webern- auf die Bühne. Noch aber machte sich das große Publikum auch nicht entfernt einen Begriff von der Mannigfaltigkeit der hansindustriellen Tätigkeit, von der Verbreitung derselben sowohl in den Gebirgsgegenden, wie auch ganz besonder» in den Großstädten. Berlin machte 1906 den Anfang mit einer Heimarbeits-Ausstellung, London folgte im vorigen Jahre und nun ist in Frankfurt a. M. seit wenigen Tagen die dritte HeimarbeitS- Ausstellung eröffnet worden. Sie unterscheidet sich von der Berliner Ausstellung nicht nur durch den beträchtlich größeren Umsang, sowie durch ihren systematischen Ausbau, der sowohl geographische, wie auch fachliche Gesichtspunkte berücksichtigt, sondern cs besteht ein ganz prinzipieller Unterschied zwischen beiden Veranstal tungen. In Berlin ging man von der bestimmten Voraussetzung aus, daß die Lage der Heimarbeit in ihrer Gesamtheit durchaus trostlos und schlecht sei, daher machte man mehr oder weniger durch die Vor führung der krassesten Beispiele schlechten Verdienstes diese von vorhinein ausgestellte Behauptung augenfällig. In Frankfurt dagegen ging man vorurteilsloser ans Werk, man untersuchte die einzelnen Branchen in den verschiedenen Gegenden des sogenannten „Rbein- Mainischen Wirtschaftsgebietes" (Taunus, Odenwald, Spessart, Rhön, Vogelöderg, Westerwald, Rheinhessen) und suchte sich sür die Aus stellung nicht einzelne ausnahmsweise gut oder ausnahmsweise schlecht bezahlte Erzeugnisse heraus, sondern war bestrebt, ein möglichst voll ständiges Bild der mannigfaltigen Produktion zu geben. Wo man aber nicht alle Erzeugnisse ausstellen konnte, da nahm man unter allen Um ständen das Typische, das Normale heraus. Ein weiteres sür den Be sucher sehr wertvolles Prinzip besteht darin, daß man fast durchweg die Arbeitsmethode durch Vorführung der einzelnen Arbeitsabschnitie veranschaulicht hat. Die Frankfurter Ausstellung bietet dadurch ein lebendiges Bild der Hausindustrie, das noch durch eine große Anzahl wohlgelungener Innenaufnahmen von Hcimarbeiterwerlstätten vervoll ständigt wird und das seinen wirkungsvollen Abschluß erhält durch die praktische Ausübung der hausindustriellen Tätigkeit in einer Reihe von Schauwerkstätten. Wir sehen da den Federhallerdreher aus dem Odenwald, den Verfertiger grober Holzwaren aus ter hohen Rhön, den Kunstschnitzer aus dem Eisenacher Oberland. Aus dem Töpserdors Marjoß arbeitet ein Heimarbeiter an der Drehscheibe, ein Korbflechter aus dem Taunus hantiert mir Weivengerten Uno ein Elfenbeinschnitzer aus d.un Odenwald schnitzt allerliebste Tierfigürchen. Wir tonnen uns davon überzeugen, mit welcher Fingerfertigkeit Frauenhände Christbaum schmuck und Perlenkränze verfertigen. Beionderes Interesse der meist städtischen Besucher erweckt ein alter Rhönbauer, der an einem noch älteren Webstuhl weißes Linnen webt. Ein Stück nntergeheude Dorf poesie sür den Dichter — ein ernstes soziales Problem für den Volkswirt. Außer den Branchen, die eigene Schauwcrlstäiten besitzen, gibt es aber noch eine große Zahl von Heimarbeitsgebielen, welche besondere Beachtung verdienen. Da ist zunächst die sich um die Stadt Offen bach a. M. gruppierende Lederwarenincustrie, welche einschließlich der Gehilfen von Hausindustriellen über 2500 Periouen umfaßt. Im Gegensatz zu der überwiegenden Zahl von Heimarbeitern besitzen diese eine starke gewerkschaftliche Organisation. Hier spielt auch das nicht immer gesunde Zwischenmeistertystem eine große Rolle. Ein Durchschnittswochenlohn von 22 Gt, der ermittelt wurde, besagt, daß die Verhältnisse dieser Gruppe verhältnisinäß g günstig sind. — Nm Hanau und Aschaffenburg herum, dann aber auch im Gießener und im rbeinhefsischen Bezirk siyen etwa 2000 Zigarrenarbeiter, deren Verdienst schon wesentlich geringer ist. Vielfach handelt es sich jedoch um Kranke und Invalide, sowie ältere Leut-, die jene relativ leichte Arbeit verrichten. — Ein überaus wichtiges Gebiet ist die Wäschekonfektion und die Herrenkleidermacherei. Erstere beschäftigt wohl einige tausend Heimarbeiterinnen; ihr Verdienst variiert entsprechend der verlchiebenen Geschicklichkeit ustv. zwischen 9 und -10 pro Stunde. Der Durchschnitts-Netlolohn dürste zwilchen 12 und 20 liegen. Die Herrenkonfektion wird fast ausschließlich in Heim arbeit hergestellt, etwa 1500 Personen arbeiten in dem Gebiete, die zwischen 22 und 50 netto pro Stunde verdienen. Neben dieser in den Großstädten und ihrer engeren Umgebung ver tretenen Heimarbeit mit verhältnismäßig hohen Stundenlöhnen treten die in den Gebirgsgegenden gezahlten Löhne beträchtlich zurück. So finden sich z. B. in der Rhön und im Odenwald 12 bis 15 Stunden verdienst in der Holzdreherei und der groben Schnitzerei. Kunstlchnitzer kommen auch höchstens aus 20—30 Stundenlohn. Ein reiches Gebiet hauöindustrieller Tätigkeit entwickelt sich hier vor unseren Augen; wir erkennen aus den Etiketten, die an jedem Gegenstand befindlich sind, welch kärglichen Lohn der Verfertiger erzielt, aber wir erblicken auch daneben manch ireunvlichereS Bild. Wenn wir dann uns noch vergegenwärtigen, baß in vielen Fällen die Heim arbeit ein höchst erwünschter Zusatzverdienst für die ländliche Bevölkerung dürftiger Gebirgsgegenden geworben ist, wie nur durch sie eine Landflucht verhindert und eine Bodenständigkeit erhalten werden konnte, so kommen wir zu dem Resultat, baß es verfehlt wäre, die Hausindustrie in Bausch und Bozen zu verurteilen. Allerdings gibt eö vieles, sehr vieles zu bessern und zu ändern, und dazu wird die Frank furter Veranstaltung genugsam Anregung bieten. Finnische Schicksale. Die vom Zaren verfügte Auflösung deö Landtages in Finn land bat wieder einmal die Blicke der westlichen Europäer auf das Großsürstenturn gelenlt, wo die innerpolitischen Verhältnisse nicht gerade die besten sind. Durch das Eomrnuniquö hat man ja wohl erfahren, was den Anlaß zu ber Maßnahme des Zaren gab, nicht aber worin jene Beleidigung Rußlands und das unzuläisige Auftreten des finnischen Landtages erblickt wurde. Es ist daher Wohl angebracht, den Ursachen der LandtagS-Auslömng nachzugehen, soweit sie in dem Communiquö erkenntlich sind. Ende März wurden im Grundgesetzausschuß deS Landtages eine Reibe von Reiolutionen eingebracht, vie sich sämtlich mit der Tätigkeit ter finnischen Regierung beiaßien und dieser rnebr oder weniger Richt linien für die weitere Politik geben sollten. Während aber bie An träge der Schweden und des Abgeordneten Schybergson dahin gingen, daß die Regierung nur alles tun solle, um dem Lande die Grundgeietze zu erkalten, wurde von der jungsinnischen Partei zum Ausdruck gebracht, die Regierung möge „kräftiger als bisher" das grundgesetzliche Recht und die territoriale Integrität des Landes verteidigen. Noch deutlicher wurde die allfinnische Partei, in deren Antrag es hieß, das finnische Volk erwarte, daß die Regierung alles tue, um die Streitig keiten zwischen Finnland und Rußland in grundgesetzlicher Weise zu regeln und festzuslellen. Außerdem erklärte diese Partei, die Tätigkeit der finnischen Regierung für die Erleviguna obiger wichtiger Angelegen beit lei nicht befriedigend gewesen. Den Höhepunkt aber erilommen die Sozialdemokraten, in deren Antrag unter anderem gesagt wurde, die Regierung habe von Anfang an das Vertrauen des Volkes nicht gehabt, sie habe gegen die notwendigsten Verbesserungen gekämpft und „das Proletariat tyrannisiert". Sie habe durch Ausweitungen, Verbauungen und Ueberantwortunz sowohl von Russen, die „von der bureaukratlschen Schreckensherrschaft zu Gewalttaten genötigt" würben, als auch von Personen, bie zu anderen Oppositionsparteien gehören, denjenigen Teil des rnssilcken Volkes beleidigt, der die Gerechtigkeit unterstütze. Die Regierung habe „dem Verlangen der russnchen Reaktion nachgegeben" und damit ihre wichtige Pflicht in dem Kampfe ree Volkes um seine Rechte versäumt und gezeigt, daß sie unfähig >ei, die „Ver nichtungsangriffe des reaktionären Rüglands auf die Selbständigkeit und Freiheit des Volkes abzuwehren". Wie man sieht, führen die Genossen in Finnland dieselbe Sprache wie bei uns und sind voll desselben revolutionären Geistes, der alles Reaktion nennt, was nicht seinem Geschmack entspricht. Nun brauchic ja der sozialistitchr Antrag vom Landtag noch nicht angenommen und dadurch zur Sraaisatiion zu werden, denn die Genossen halten von den 200 Sitzen nur 77. Dank einer unglaublichen Abslimmungstaktik, bie aber doch dem schwedisch-allfinnischen Gegensatz entspricht, kam es jedoch dahin, daß der tozialistische Antrag mit ziemlicher Mehrheit im Lanbtage angenommen wurde, was dann zum Rücktritt des Senates führte. Bei der Abstimmung über die verschiedenen Anträge wurde nämlich von den Schweden und Jungfinnen, die zusammen über 51 Summen verfügten, ebenso wie von den Sozialdemokraten gegen den Antrag der altfiiinischen Partei votiert, so daß sämtliche Anträge mit Ausnahme des sozialdemokratischen von den Sozialisten niedergestimmt werden konnten. Infolge dieses Auftretens der Schweden und Jungfinnen lehnten die Altfinnen jede weitere Beteiligung an der Abstimmung ab, wodurch bie Sozialisten dem schwedisch-jungfinnischen Kartell von 51 Stimmen weit überlegen waren und ihren eigenen Antrag durchdrückien. Als man dann die Bescherung sah, hatten wohl Schweren und Jungfinnen den sogenannten Allfinnen heftige Vorwürfe da:über ge macht, daß sie nicht gegen den sozialistischen Antrag stimmten und ihn zu Fall brachten (was ja mit 51 -f- 59 : 77 Stimmen möglich gewesen Feuilleton. Die Dienste der Großen sind gefährlich und lohnen der Mühe, des Zwanges, dec Erniedrigung nicht, die sie kosten. Lessing. I/Lme üv karis. Von Dr. Georg Biermann. I. Der erste Frühlingssonnenschein nach vielen Tagen von Schmutz und Regen küßt die Dächer der Millionenstadt. Paris entdeckt ein neues Leben. Scharenweise zieht's von der Rive gauche herüber, Mont- martre entgegen. Menschen mit Festtagslaunen und in Sonntags kleidern. Die Omnibusse und Trams nach dem Bois sind überfüllt. Autos und Droschken alle beschlagnahmt. Ganz Paris ist auf -en Beinen, das Kommen des Frühlings zu feiern. Von der Butte von Montmartre schweift der Blick gen Westen, Süden und Osten. Ein weites Häusermeer, unendlich und grenzenlos. Wie Arme, die den Himmel greifen möchten, ragen die Türme und Kuppeln der Kirchen und Paläste auf. Notre Dame dort drunten auf der Ile de France, die die Seine in weitem Bogen umfließt, genau im Herzen von Paris, blickt wie eine Königin zum Martyrienberge herüber und träumt im Sonnenglanz über die Jahrhunderte, in denen sie die Geschichte Frankreichs miterlebt. Wie ein undefinierbares Summen aus weiter Ferne brandet der Schall des Lebens aus den engen Straßen, aus den breiten Boulevards, die wie Gürtel den Bauch von Paris umschließen, zur Kirche von Sacre-Coeur herauf. Aus ihrem Innern erschallt der fromme Pilgergesang aus tausend Kehlen, die hier auf dem höchsten Gipfel ihrem Gotte Opfer bringen. Immer neue Menschen massen schieben sich den Berg herauf, von rechts und links ber, an den Flügeln von Moulin rouge vorbei. Montmartre ist in diesem Augen blick ein einziger Wallfahrtsort gläubiger Seelen. Wir lassen uns von dem Strom führen, treten ein ins Innere, wo Verzückung und Sehn sucht in Musik und Gelang schwelgen. In diesen gewaltigen Massen von Sacre-Coeur bricht sich fast erschütternd die Wucht der Stimmen, die ihrem Gotte das Tedeum singen. H. Der Abend kommt herauf. Die festliche Schar, die das weite Bois de Boulogne am Nachmittag füllte, ist durch die Ehamps Elysees zurück geflutet in den Bauch von Paris. Ein feenhafter Lichtglanz erhellt die prächtigen Boulevards. Zur großen Oper jagen Karossen und Auto- mobile. Uns führt der Weg zum zweitenmal nach Montmartre, wie derum hinauf in die Nähe von Sacrö-Eoeur, die stumm daliegt, ganz in Nacht getaucht, ein schlafender Riesenleib. Von unter her strahlt es herauf, «in Feuerwerk von weißen Lichtern. Die bengalisch bcleuch- teten Flügel der roten Mühle drehen sich und locken verheißungsvoll. „La ville de la lumiere" ist in ihr Recht getreten und behauptet daS Da sein. Paris, die Stadt des Lichtes. Wie ein Symbol schwebt dies Wort über dem Häusermcer. Selbst fern an der Peripherie bezeichne! ein feiner weißer Streif die Grenzen, wo das Leben der Großstadt er stirbt. Paris lebt in diesen Stunden, es lebt sein eigentliches Leben. Neben Sacre-Coeur liegt verschlafen und in Dunkelheit gebettet der kleine halbzerfallene Häuserblock, der diesem Viertel des Genusses seinen Namen gegeben. Aus der Place de Tettre, an der sich noch die Fassade des ehemaligen Stadthauses erhebt, überkommt uns so seltsam das Gefühl dörflicher Abgeschiedenheit. Es ist, als läge die brausende Stadt der Millionen Menschcnseelen weit weil unter uns. Kein Laut dringt mehr von unten heraus, keine Erscheinung stört den Eindruck dieses stillen, weltfernen Winkels, der völlig unberührt von den Dingen der Gegenwart auf den Fittichen eines erstorbenen Jahrhunderts zu träumen scheint. Um die nächste Ecke biegt-hin und wieder ein Pärchen, Gestalten, die im Oeuvre Toulouse-Lautrecs aufleben. Er die Hände in der Hosentasche, die Mütze auf dem Kopse, sie barhäuptig, dirncnhast herausgeputzt, mit trippelndem Gang, der die Schatten im flackernden Laterncnlichte tanzen macht. Wir biegen in eine kleine Schenke ein, ein niedriger Raum, in dem wenige Tische stehen. Wir sind bei Coucou, einer kleinen Kneipe jenes alten Montmartre, das der Fremde sonst kaum kennen lernt, wo der Maler mit seinem Modell sich ein sonntägliches Mahl leistet und in die durstige Kehle den kleinen Fiasko echten Chiantiwcins versenkt. Deine Küche, alter graubärtiger Coucou, verdiente im Baedeker mit drei Sternen genannt zu werden. Danken wir dem S^'ckial, daß cs nicht so ist. Dieser letzte Winkel echter Montmartrcstimmung verdient noch einige Jahrzehnte zu leben. Und noch ein anderes Denkmal von Montmartre soll unberührt von der Gegenwart seine Eigenart behalten: „La Pin agile", das früher „Cabaret des assasins" hieß, vielleicht das älteste Kabarett der Welt, viel älter als der „Chat noir", den vor dreißig Jahren der bramarba- fierende Rodolphe Salis auftat, der eigentliche Entdecker der Butte, der aus dem Ouarticr latin des linken Seineusers, wo noch Murgers Liebesleid zum Himmel klang, das lustige leichtlebige Malervölkchcn mit seinen Petites amantes, Colombines und Pierrots, zum Martyrien- berg hinüberführte, und so ein weltbedcntcndes neues Milieu des 19. Säkulum erfand. Der „La Pin agile" bat sein Heim in einer halb zerfallenen Baracke des äußersten Montmartre ausgeschlagen, dort, wo der Berg bereits gen Norden abzusallcn beginnt, wo die Hunde ihr Dorado haben und den modernen Menschen ein banges Herzklopfen überkommt. Wir treten durch die niedrige knarrende Pforte ein, steigen rechts ein paar Stufen empor und sind in einem primitiv beleuchteten, schmutzigen Raum, wo Tische, Bänke und Fässer herumstehen. An der einen kalkgestrichcnen Wand hängt ein großer Christus aus Gips, über den soviel rote Farbe ausgegossen ist, daß er wie in Blut getaucht scheint. Bestaubte Zeichnungen sind ringsherum angehcstet: im Moment ge- zeugt, haben sie dies Milieu mit seinen Typen und bizarren Fremden scstgebaltcn und bewahren die Handschrift so manchen begabten Künst- lers, dem es bis jetzt noch nicht gelingen wollte, aus dieser Nacht zum Lichte aufzutauchen. Ter Wirt, der einem struppigen, eben aus dem Meer gezogenen Seemanne ähnelt, schüttelt uns derb die ^and und heißt uns willkommen. Wir bestellen einen Schnaps mit Kirschen, das Nationalgetränk von Montmartte — die Kirschsteine werden natürlich nach, guter frommer Sitte auf den Boden gespuckt — und verbringen eine volle Stunde in diesem Kabarett. Ter Wirt ist ein Originalgeme, ein Musiker, der ein würdigeres Los verdient hätte, er ^iclt meister haft Cello, Bratsche und Posaune. Seine Tochter, die schmiGinstc deutsche Kuhmagd ist Gold neben ihr, sitzt am Klavier und interpretiert Brahms, und zwar so meisterhaft, daß einer meiner Begleiter, ein junger deutscher, seit Jahren in Paris ansässiger Komponist, ganz hingerisicn ist. Ter angebliche Kellner ist ein Virtuos der Geige, ein Improvisator, dessen derbe Scherze die Gäste durch frenetisches Gelächter erwidern. Kurz, ein seltsames Milieu, mit seinen Typen, den kleinen Bürgerinnen von Montmartre, den Malern, den Genies, von denen jeder zur Unter haltung beiträgt. So ungefähr denke ich mir das Milieu, in dem Willette, Steinlen, Leandre, Toulouse-Lautrec ihre göttlichen Inspira tionen erhielten. Ich bin dem „La Pin agile" für diesen Abend dankbar. 111. Flontniartro n'oxisto plus — „Coucou" und „La Pin agile" sind Ueberrestc. Ter Cancan des Lebens tanzt in Moulin rouge. Tas ist eine Attraktion für Fremde, die etwas erleben wollen, und solche Er lebnisse sind so billig. Der moderne Montmartre mit seinen Kabaretts, Bällen, Varietes ist eine grauenvolle Schöpfung wilder Lebensgier, ist ein einziger Tempel Sardanapals, in dem die Orgien kein Ende nehmen. „La pctite Parisienne", dies entzückende Pflänzchen mit der angeborenen Grazie, dem lustigen Spiel der Augen, ihrem Schick und ihrer Charme, Murgers Musette und Willettes Mimi Pinion haben hier keine Heim stätte; die sind im alten Ouarticr latin geblieben und freuen sich ihre: Studentenlieben. Auf Montmartre aber triumphiert das Laster, dies Laster, das abends um sechs Uhr bereits im Tabaiin tanzt und morgens um fünf Uhr noch die Bars und Brancricn erfüllt, dies Laster, das au' einem Vulkan von Erotik einherschreitct und das Unmöglichste möglich macht. Und poch steckt auch da ein Teil von der Seele dieser Stadt. Tenn Paris ist die Stadt des Lebens. Jeder Cri ist liier Lebensdurli und Sehnsucht nach Erfüllung. Die Tradition des Grand sidcle des Louis UV. und Louis XV. färbt in der Gegenwart ab, bat ihr da) eigentliche Relief gegeben. Tic Scele dieser Stadt ist wie ein Irr garten des Orients, in dem die wundervollsten Erscheinungen mit Ver heißung winken. Paris tanzt sein Leben, aber dieser Tanz voll sieht sim auf einem Vulkan, der sinnbctäubcnde Tülle ausströmt. Wie die Dich- ter es erlebt, Zola und Daudet es schildern, wie Felicfien Rops cs apostrophiert, .grauenvoll schön und doch auch von einer Leben und Schönheit gebärenden inneren Kraft erfüllt, so ist es in Wirklichkeit. Paris ist überhaupt nur in Frankreich möglich, einem Lande, in dem einmal alle Lebensquetlen so reichlich fließen dann die Tradition gerade in der modernen Kultur ein so vielsagendes Wort mitspricht und drittens alle Lebenscncrgien in jeder Richtung ihr Zentrum finden. Tenn alle?, was in Frankreich von Geist. Lebensfreude und Tatendurst crsiillt si» strömt hier zusammen. Tie Provinz ist tot Tas ist das Seltsame an dieser einzigen Stadt, die im wahrsten Sinne des Wortes Frankreich
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