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DAS ATELIER DES PHOTOGRAPHEN. 177 langer Jahrzehnte sich vergrub? Oder sind streng hässliche Typen unter Männern, welche die Darstellung des Schönen sich zur Lebens aufgabe stellten, nicht sehr selten? Ich kann behaupten, nie einen wirklich häss lichen Maler gekannt zu haben. Hingegen kannte ich einen Ziegenhirten, dessen Gesicht in höchst auffallender Weise seinen Schutzbefohlenen ähnelte. Und wer wird bestreiten können, dass Ge sichter jener Dienstboten, welche sich täglich auf Teppichen in luxuriöser Umgebung bewegten, sich zierlicher bilden als solche, welche in ein fachen Häusern lebten? Der Eindruck zeichnet sich begreiflicherweise um so stärker, je weniger die Gehirnbildung zur Zeit vorgeschritten war. Einer Eigen tümlichkeit muss ich hier Erwähnung thun, welche uns, wie wir im Verlaufe der Abhandlung sehen werden, von grosser Wichtigkeit ist. Wie sich nämlich das Gehirn in seinen ein zelnen Teilen ganz unabhängig vom Ganzen mehr oder weniger stark ausbildet, so finden wir auch die korrespondierenden Gehirnpartieen der rechten und der linken Gehirnhälfte stets mehr oder weniger ungleich ausgebildet. Hier bildet sich das Gesicht ganz analog. So kommt es, dass wir Menschen finden, welche auf der einen Gesichtshälfte ganz intelligent aussehen, während von der anderen ein gleiches nicht zu sagen ist. Auf der am meisten ausgebildeten Gesichts hälfte sind entsprechend alle Knochen und Muskeln höher entwickelt, sogar die Nerven, z. B. des Auges, das hier eine grössere Sehkraft be sitzt, als auf der anderen Seite. Es ist klar, dass spätere Einflüsse entgegengesetzte Er scheinungen hervorrufen können. Merkwürdigerweise finden wir für gewöhn lich — Ausnahmen sind hier allerdings durch aus nicht selten — dass die Seite des Menschen, von welcher die Lebensthätigkeit ausgeht, die Herzseite, diejenige ist, an welcher diese voll kommenere Gehirnbildung gewöhnlich vorkommt, welche nicht allein auf das Gesicht, sondern auf den ganzen Körper ihren Einfluss ausübt. Jeder weiss z. B., dass bei den meisten Menschen die linke Hand, wenn nicht durch Arbeit entartet, und der linke Fuss grösser sind, als die entsprechenden Extremitäten der rechten Seite. Es ist nicht selten, dass der Anfänger im Klavierspiel mit der linken Hand eine Oktave greifen kann, während die rechte hierzu nicht im stände ist. Vorstehendes sind Beobachtungen, deren Wichtigkeit wir noch des öfteren und näheren besprechen werden. Einen Charakter, gleichwie er sich mit den Jahren am festesten bildet, finden wir auch am schärfsten im alten Gesicht ausgeprägt. Selbst im reiferen Mannesalter (35 bis 45 Jahre) ist derselbe nicht so definitiv ausgesprochen, wäh rend wir auf dem ganz jugendlichen Gesicht nur eine Mischung von Charakteren, welche noch im Kampfe miteinander stehen, zu lesen vermögen. Aber nicht allein den Charakter des Menschen, das heisst seine bleibenden, seelischen Eigen schaften trägt sein Gesicht zur Schau, sondern noch ganz besonders ist dasselbe bestimmt, den Ausdruck der Leidenschaften und Gemüts bewegungen gleich diesen vorübergehend auf zunehmen. Auch das kleinste psychologische Motiv setzt die Muskeln des Gesichtes in Bewegung, in ihnen, im Auge zumal, blitzt jeder, das Gemüt streifende Gedanke auf. Zahllos sind die feinen Nuancen der Gemüts bewegungen, der Leidenschaften, welche in der Brust von den Millionen Erdenbewohnern Platz genommen. Begnügen wir uns die hauptsächlichen, welche dem porträtierenden Künstler besonders wichtig sind, näher zu studieren. Die Freude giebt sich kund durch die denkbar ruhigste, schönste Lage der Muskeln. Die Stirn klar und heiter, das Auge mässig ge öffnet, die Lippen nur leicht oder kaum ge schlossen, die Mundwinkel etwas gehoben, der Blick eher hoch als tief, das ist der Ausdruck Mandel- Breslau.