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Laudatio Leipzig, 4. September 1992 Dreißig Jahre Leipziger Synagogalchor Wenn wir aus diesem Anlaß Rückschau halten, gilt es nicht nur einer Generation von Sängerinnen und Sängern zu danken für ihren unermüdlichen Einsatz zur Pflege jüdischer Musik, gilt es nicht nur des Gründers Oberkantor Werner Sander zu gedenken und seines Nachfolgers Helmut Klotz, der mit seinem künstlerischen For mat und mit seinem ganz persönlichen En gagement den Chor geprägt hat, sondern dann sollten wir uns erinnern, was sich in diesen drei Jahrzehnten ereignet hat: In unserer Stadt, die lange Zeit geprägt war von jüdischem Leben in ihrer Mitte, die jüdischen Bürgern auf dem Gebiet der Wissenschaft und Kunst, der Wirtschaft und des Handels so viel zu verdanken hat, lebten einst 14 000 jüdische Menschen. Fast wäre durch die Machthaber der natio nalsozialistischen Zeit und durch die schweigende Mehrheit unseres Volkes jü disches Leben völlig ausgelöscht worden. Erschreckend ist die kleine Zahl derer, die überlebt haben. Fast wäre durch die Politik der ehemaligen DDR das letzte Erinnern verlorengegan gen, weil Israel als Aggressor und Feind abgestempelt wurde. Doch die "Israeliti sche Religionsgemeinde" blieb bestehen, auch wenn man ihre Wirksamkeit auf das gottesdienstliche Leben einschränken wollte. Es sind ganz wenige Menschen in unserer Stadt gewesen, die dennoch versucht ha ben, sich der geschichtlichen Schuld unse res Volkes an der Vernichtung unserer jü dischen Mitbürger zu stellen, die unermüd lich tätig geblieben sind, um für ein besse res Verstehen des Judentums beizutragen. Der Leipziger Synagogalchor gehört zu diesem Kreis. Durch die Pflege synagoga ler Musik und hebräischer Folklore hat er immer wieder Menschen erinnert an jüdi sche Tradition und Kultur und damit unge zählte Zuhörer erreicht. Wenn die uralten Worte aus den bibli schen Psalmen erklingen, die die Klage vor Gott bringen und den Ruf aus der Tiefe der Not herausschreien, die zugleich reichen Trost schenken und zum Danken und Lo ben anregen, dann sind bei vielen unserer Zeitgenossen, die solchen Texten entfrem det wurden, innere Saiten geweckt und an gesprochen worden, die zu Nachdenken, Einkehr und Umkehr führen. Wenn die vielfältigen, bunten Klänge he bräischer Lieder ertönen, wie sie durch Generationen überliefert wurden und oft gerade zur heutigen Zeit ihren aktuellen Bezug finden, dann nehmen viele Zuhörer inneren Anteil an den ernst besinnlichen und oft auch wieder locker heiteren Emp findungen ihrer jüdischen Mitbürger, die dort wohnen, wo das Jiddische gepflegt wird, oder heute in Israel leben. Dreißig Jahre sind für eine lange Tradition eine kurze Zeit. Darum wünsche ich den Sängerinnen und Sängern, daß sie das be gonnene Werk noch sehr lange und immer wieder lebendig und neu fortsetzen kön nen und viel Freude daran haben. Friedrich Magirius, Superintendent an der Nikolaikirche zu Leipzig Stadtpräsident