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02-Abendausgabe Leipziger Tageblatt und Handelszeitung : 22.08.1908
- Titel
- 02-Abendausgabe
- Erscheinungsdatum
- 1908-08-22
- Sprache
- Deutsch
- Vorlage
- SLUB Dresden
- Digitalisat
- SLUB Dresden
- Rechtehinweis
- Public Domain Mark 1.0
- URN
- urn:nbn:de:bsz:14-db-id84535308X-19080822021
- PURL
- http://digital.slub-dresden.de/id84535308X-1908082202
- OAI
- oai:de:slub-dresden:db:id-84535308X-1908082202
- Sammlungen
- Zeitungen
- Saxonica
- LDP: Zeitungen
- Strukturtyp
- Ausgabe
- Parlamentsperiode
- -
- Wahlperiode
- -
-
Zeitung
Leipziger Tageblatt und Handelszeitung
-
Jahr
1908
-
Monat
1908-08
- Tag 1908-08-22
-
Monat
1908-08
-
Jahr
1908
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Bezug-'Prett L«g,»ta «l» Lorort« »«a «lkr« Träger uä» k»«dlr»m» I»« -«» »«drochtl >»d tl> tä»U»ru m» Li« «vqel« N»w«ä ko-K I» «lutoib, L (»« m-rgr»H dtrrt»tzt-rltch 8 Pi-, m»namL 1 s»«a»d« » (moranlt und abend«) »t«rtÄ. jttzrlich 4.20 «onatltch 1LV vi. Dur» di« V»« p» bqtedeni fl «al täglich) lunerbald Deutschland« und der deutschen Kotoateu »tertrltähriich 2,22 M., monatlich 1.72 M. anllchl. Po», bestcllgew, llk O«st««tch vL « L Ungarn 8 L »intelji^lich. ganmo in vA gien. Dänemark den Donanstaatr», Italia», Luremburg, «tederlaud^ «arwe^n, »int. land. Schwede», Schwatz un» Spant«. Ja allen übrigen Staate» »« direkt durch tt» «edaktt», »nd ErvrdM»»» Joha»ni«gall«8. Lalttbon Rr. 14892. Sir. 14SS3. «r. 140V4. Nr. 232. Abend-Ausgabe v. MMerIaMM Handelszeitung. Imlsblatt des Rates und des Notizeiamtes der Ltadt Leipzig. Sonnabend 22. August 1908. Lazeigea-Prei- itr Inserat» an« Leipzig und Umgebung di« S-espalren« Petitzeiie 22 PI., finanzielle Anzeigen 30 Ps„ bieklamen 1M.; »an antwLrt» 30 Ps., Reklamen UW M.; „„Ausland 20 PI., ftnan». Anzeigen 72 PI. Reklamen 1^0 M. Inserate». Behärde» in amtlichen Teil 40 Beilugegebübr 2 M. p. Dausen» exkl. Post gebühr. »«Ichästsanzeigen an bevorzugtei Stell« im Preis« «rhbht. Rabatt nach Tarn gesterteilt« Aultrüg« kSnnen nicht zurück gezogen werden. Für da» Erscheinen an bestimmten Tage» und Plätzen wird kein« Baranti« übernommen Anzeigen- Annahme, Augustu»platz bei sämtlichen Filialen u. allen Annoncen, tzrpedittouen de» Ju» und Auilande«. Paupt-Lilial« Lerlin: Sarl Duack«r, Lerzogl. Bagr. tzosbuch» Handlung, Lützowstrahe 10. (Telephon VI, Nr. 4M0). Paupt-Stllale Dresden: Seestrabe 4,1 (Telephon 4621). 102. Jahrgang. Das wichtigste. * Der „Natkonalverein für das liberale Deutschland" erläßt einen Aufruf zur Erhaltung der bedrohten Selbst verwaltung. lS. d. Les. Art.) * Der preußische Landtag wird voraussichtlich am 20. Ok tober wieder zusammentreten. fS. Dtschs. R.) * In der Türk« k kam es zu Wahltumulten. sS. Ausl.) * Ein neuer Kon fliktSfall hat sich zwischen China und Japan ereignet. sS. Ausl.) Das bedrohte Volksrecht. Der „Nationalverein für das liberale Deutsch, land" erläßt folgenden Aufruf: „Die Erfahrungen der letzten Jahre haben bewiesen, daß für das frei heitlich gesinnte Bürgertum der Zeitpunkt gekommen ist, von neuem in einen Kampf einzutreten für das staatsbürgerliche Recht der fre m Meinungsäußerung. Eine Anzahl von „Fällen" aller Art, als deren letzte die Angelegenheit des Lehrers Beyhl in Bayern, in Preußen der unerhörte Versuch der Disziplinierung des Bürgermeisters Schücking- Husum hervorzuheben sind, beweisen uns, auf wie schwachen Füßen das in schwerem Kampf errungene politische Grundrecht der Deutschen steht. Unzählige deutsche Männer, die in einem mittelbaren oder unmittel baren Abhängigkcitsverhältnis zur Regierung stehen, werden zu Staats bürgern zweiten Ranges herabgedrückt, wenn die Bureaukratie aus dem Rahmen strengster politischer Neutralität heraustritt und den Staat, der das Gemeingut aller sein soll, zu einer Parteiische macht. Das System, von dem Beamten gewisse politische Gesinnungen auf dem Weg wirt schaftlicher Schädigung erzwingen zu wollen, führt zur Korruption des Beamtenstandes, der nur als lebendiger Organismus in Freude und Freiheit dienender Kräfte dem Vaterlande zum Segen werden kann. Wohl wissen wir, daß nicht alle Regierungen Deutschlands und nicht alle in der Regierung stehenden Personen von diesem Geist der Reaktion erfaßt sind, allein wir stellen fest, daß er im Vormarsch begriffen ist, daß er den guten Sinn unseres Volkes mehr und mehr vergiftet und einen bedauerlichen Niedergang der Staatsfreudigkeit gerade in den ernsten und fortgeschrittenen Kreisen der Bevölkerung zeitigt. Wir halten aus diesem Grund dafür, daß ein nachhaltiger Kampf zur Verteidigung der bedrohten Volksrechte geführt werden muß. Es muß dafür gesorgt werden, daß jeder neu eintretende „Fall" mit allem Nachdruck in der Presse zur Sprache gebracht wird und die betreffenden Männer durch das ganze Schwergewicht der öffentlichen Meinung, durch die geistigen Führer des Volkes und die sämtlichen Organisationen freiheitlich ge sinnter Parteien in ihrem Kampf unterstützt werden. Als Zielpunkt schwebt uns vor die Schaffung einer Zentrale, von der aus systematisch für die Erhaltung der bedrohten Selbstverwaltung gearbeitet werden kann. Nur die gemeinsame Arbeit aller derer, die an dem freiheitlichen Ausbau unserer staatlichen Verhältnisse interessiert sind, kann die drohende Gefahr abwenden. Wir fordern auf, sich dieser Kundgebung durch Namensunterschrist anzuschließen." Deutsche Aultuv in Palästina. Ueber den Segen, den deutsche Siedeluna auch Palästina und seinen Bewohnern gebracht hat, veröffentlichte das in Kairo er scheinende Blatt „Mokattam" bemerkenswerte Ausführungen, aus denen wir folgenden Auszug wiedergeben: „ Die Deutschen kauften große Länderstrecken im Westen Palästinas, bauten sie an und lieben die Ein geborenen darauf arbeiten. Bcreitwilligst unterrichteten sie sie im Ackerbau. Wenn sie nicht gewesen wären, so würden die Leute von Haifa und Umgegend noch heute den hölzernen, von Rindern gezogenen Pflug anwcndcn, die hölzernen Wasserschöpfwerke und die rohen Tongcfäße. Jetzt ist der Bauer in jenen Gegenden intelligenter und besser gestellt als sein Genosse in vielen anderen Ländern, und sogar als der ägyptische Bauer. Denn dieser kauft seine Werkzeuge und Gesäße aus Europa oder Amerika, während sie der Bauer bei Haifa in seinem eigenen Lande hcrstellt und ihren Gebrauch von dem Deut schen lernt; und zudem sind sie besser, als die Werkzeuge, die in Aegypten zur Anwendung kommen. Wären die Deutschen nicht nach Palästina gekommen, so würden die dortigen Landbewohner noch heute in dcr- lclbcn Ungewißheit und Mißwirtschaft leben wie früher. Den Berg Karmel z. B., den die Regierung den einheimischen Bauern überlassen hatte und den zu bearbeiten sich diese weigerten, haben die Deutschen zu einem großen Teile urbar gemacht; sie haben den Boden geebnet und Bäume angepslanzt, bis er ein Garten und eine üppige Oase wurde. Jetzt ist der Berg, soweit der Blick reicht, mit Weingärten und Pinien hainen besetzt, die die Luft verbessern und gesünder machen. Außerdem bereiten sie Wein und andere Getränke aus ihren Trauben. Dieser Wein wird zum Teil auf ägyptischen Märkten verkauft; er ist völlig unverfälscht. Sie haben auch den Eingeborenen den Weinbau und die Weinkeltern gelehrt, so daß der Karmel durch ihren Fleiß an Frucht barkeit und Güte der Erzeugnisse dem Libanon gleichkommt. . . In meinem Leben habe ich kein Volk gesehen, das sich so gut auf die Gewinnung von Milchprodukten versteht wie diese Deutschen. Die größte Sorgfalt verwenden sie auf die Viehzucht; infolgedessen ist die von ihnen auf den Markt gebrachte Milch rein, frei von jeder Un sauberkeit und Fälschung, und als Säuglingsernährung und zur Butter gewinnung durchaus geeignet. Alle Kaufleute in Haifa nd Umgebung beziehen ihre Butter und ihren Käse ausschließlich von den neuen deut schen Kolonien. Tie Deutschen haben auch Gasthöfe errichtet, die von den Reisenden, die nach Jerusalem gehen, bevorzugt werden, obwohl die einheimischen Hotels sie an Ausstattung, Luxus, Größe und Billig keit übertreffen. Die deutschen Gasthöfe aber sind ihren Rivalen an Sauberkeit und Sorgfalt der Bedienung weit überlegen. An jedem deutschen Orte findet man einheimische Arbeiter, da die Deutsche» mit dem Unterricht in ihren Künsten nicht geizen. Vor der deutschen Kolonisation lebte die Bevölkerung von Palästina und be sonders von Haifa in bedrängten Verhältnissen, jetzt dagegen sind die Leute reich und unternehmend geworden. Als die Deutschen ansingen in Palästina zu kolonisieren, kauften sic Land, bauten Häuser und Werkstätten und jeder von ihnen erhielt ein Grundstück zur Urbarmachung und Bebauung. Sie brachten ihre Zeit hin, indem sie in ihren Werkstätten standen und Hammer und Amboß handhabten; und nach dem Mittagsmahle pflügten und säten sie. Am Abend fütterten sie ihr Vieh und fegten ihre Ställe; und erst nach dem Abendessen versammelten sic sich und lauschten ihren heimatlichen Ge sängen. Von dem Ucbcrschuß ihres Fleißes kauften sie neues Land, das sic selbst bebauten und bearbeiteten. Denn der Deutsche kauft Land, um von seinen Früchten zu leben, der Eingeborene aber verkauft es ihm, um die mühselige Landarbeit los zu sein. So verstehen cs die Deutschen, sich durch Intelligenz, Fleiß und Ausdauer beliebt zu machen und immer weiter vorzudringen, was wir ihnen bei ihren Verdiensten gerne gönnen." Dazu ist zu bemerken, daß die Zeitung „Mokattam" aufs schärfste rein syrische Interessen vertritt und an sich durchaus keine besondere Freundin des Deutschtums ist. Deutscher Reich. Leipzig, 22. August. * Ohue Vülew. Es steht nunmehr, wie aus Straßburg tele graphiert wird, endgültig fest, daß der Reichskanzler den Kasser auf seiner Reise in die Reichslande nicht begleiten wird. * Lloyd George in Berlin. Der englische Schatzkanzler Lloyd George wird voraussichtlich bis heute nachmittag in Berlin ver bleiben und sich dann über Hamburg und Bremen nach England zurück begeben. Der Berliner Vertreter des „Daily Chronicle" wurde von Lloyd George ermächtigt, festzustellen, daß der Besuch des Ministers ausschließlich dem Studium der deutschen JnvaliditätS- und Altersver sicherung gelte. Der Besuch sei in keiner Hinsicht offiziell und habe durchaus keine Beziehung zur internationalen Politik. Alle in England und Deutsch land geäußerten gegenteiligen Vermutungen entbehren der Begründung. Der Premierminister und Sir Edward Grey seien mit dem, was Lloyd George unternommen, vollkommen einverstanden. Lloyd George war von Anfang an entschlossen, mit den beiden Kollegen jeden wichtigen Punkt zu besprechen; es sei ganz selbstverständlich, daß keiner von beiden im entferntesten daran gedacht habe, es solle irgend eine Handlung außerhalb der amtlichen Befugnisse unternommen werden oder eine Ein- mifchung in ihre Sondergebiete stattfinden. * Teutsch - sndwestafrikanischc Diamanten für Len Kaiser. Die „Deutsche Kolonialzeitung" teilt mit, daß Staatssekretär D ern bürg nach seiner Rückkehr Seiner Majestät dem Kaiser ein goldenes Kästchen voll deutsch-südwestafrikanischer Diamanten überreichen wird. Das Kästchen ist von dem Juwelier Burmester in Kap stadt gearbeitet und wurde eine zeitlang in dessen Schaufenstern ausgestellt. DaS 12 cm lange, 5 bis 6 cm breite Kästchen hat auf dem Deckel das kaiserliche 'VV. mit der Krone darüber und enthält innen kleinen Behälter mit der Ueberschrift: „Juni 1908, Deutsch-Südwest". Dieser hat sieben Diamanten auf dem Deckel, die nach der Weise der Sterne des Sternbildes „Südliches Kreuz" angeordnet sind. * vürgrrmeister Schücktng als NeichStagSkandtLat? Der für die Reichstagsersatzwahl im Wahlkreise Prenzlau-Anger münde von den vereinigten Liberalen des Wahlkreises zuerst aufgestellte Kandidat Pastor Schmidt-Massow ist, wie das „B. T." Höri, aus Gesundheits- und häuslichen Rücksichten von der Kandidatur zurück getreten. Eine Entscheidung über den neuen Kandidaten ist noch nicht getroffen. Der bekannte liberale Rittergutsbesitzer Becker-Bartmanns- Hagen, der in Aussicht genommen war, hat ebenfalls abgelehnt. Es ist nunmehr der Vorschlag gemacht worden, die Kandidatur dem Bürger meister Schücking-Husum anzubieten, doch ist ein Beschluß hierüber noch nicht gefaßt worden. — UebrigenS wird wohl überhaupt nicht daran zu denken sein, daß in Prenzlau-Angermünde ein Liberaler gewählt wird. Der Kreis ist seit 1877 konservativ vertreten. Bei der letzten Wahl siegte der Konservative v. Winterfeldt-Menkin mit 13 266 Stimmen gegen 4237 sozialdemokratische und 3710 der Liberalen. — Im Zusammen hang mit dem Fall Schücking sei noch eine Husumer Meldung wieder gegeben, wonach gegen den für die freisinnige Partei seit längerem tätigen Lehrer von Rautenkranz-Niebüll ein Disziplinarverfahren eingeleitet worden sein soll. Eine Bestätigung dieser Meldung liegt noch nicht vor. Feuilleton. Der freie Mensch denkt über nichts weniger als über den Tod; und seine Weisheit ist nicht ein Nachdenken über den Tod, sondern über das Leben. Spinoza. * wirtrhaurkrUtur. Von Dr. Georg Bicrmann (Leipzig). Wenn ich Utopien zur Wirklichkeit erstehen lassen könnte, würde ich jedem, der nur eine entfernte Erinnerung an unser modernes Wirts hausleben mit an die Gestade der Glückseligkeit bringen würde, bei Todesstrafe den Zutritt versagen. Der Fremde müßte wieder ein Schütz ling der Götter werden, wer Obdach, Speise und Trank begehrt, sollte wie ein König am gastlichen Tische des Hauses willkommen sein. In Utopien wäre das sehr leicht zu realisieren; unsere moderne Welt freilich hat für solche Gedanken keinen Raum mehr. Darum müssen wir uns mit einer sozialen Institution abfindcn, die in dem Moment geboren wurde, als der Begriff der Gastfreundschaft im homerischen Sinne zu Grabe getragen wurde. Das Wirtshaus ist eine Notstandseinrichtung, wie so vieles andere, das feit Jahrhunderten die Welt als etwas Selbstverständliches hin- nimmt. Die Dinge sind einmal da und daS ist Grund genug für uns, sie gutzuheißen, kritiklos und ohne den Willen, mit dem Fortschreiten all- gemeiner Kulturansprüche auch an dem einzelnen zu reorganisieren und weziell an solchen Einrichtungen, auf die die Allgemeinheit unseres Volkes am ehesten angewiesen ist, und bei denen sie am meisten von den Wohltaten dieser neuen Kultur profitieren könnte. Es klafft da freilich irgendwo ein unüberbrückbarer Widerspruch: denn eine Kultur des Volkes kann es ja eigentlich gar nicht geben. Wie das einzelne Individuum nur an sich selbst, in seinem Tun und seinen Lebensansprüchen Kultur wirklich verarbeiten kann, so kann auch von einer Kultur ber Masse nicht die Rede sein, bis jeder einzelne in sich den Willen verspürt, sein Leben künstlerisch zu verklären, sein alltägliches Sein mit einem köstlichen Inhalt zu füllen, der über den bescheidenen Bedürfnissen der Alltäglichkeit alle sozialen Lebensformen umgibt. In- wieweit die Vorwärtsentwicklung ber Menschheit sich nach Jahr hunderten vielleicht zu diesem höheren Grade von Kulturbedürsnis durch ringen wird, läßt sich heute nur unbestimmt vorausahnen. Sicher aber ist, daß eines Tages auch die Masse diese höhere Kulturstufe erklimmen wird, benn sonst wäre das Beispiel unserer Besten, ihre aufopfernde Arbeit zwecklos und alles, was der moderne Mensch an neuen Schön heitsgedanken mühevoll sich angeeignet bat, gänzlich vergebens gewesen. Das aber kann nicht lein, wenn nicht alle Anzeichen trügen und uns die Geschichte der Menschheit nicht Lügen strafen will, die uns schon aus der dunklen Nacht mittelalterlicher Verwahrlosung in die farbenfrohe Gegenwart geführt hat, in der die Sehnsucht nach Kunst und Schönheit wie in keiner Epoche zuvor nach neuen, früher nie gekannten Ausdrucks. Möglichkeiten fahndet. In dieser allgemeinen Vorwärtsbewegung schreitet der einzelne voran. Er hat nicht nötig, sich um die Masse zu kümmern, und ist stolz darauf, seine schwer errungene künstlerische Lebcnsanschauung im Gegensatz zu der unterschiedslosen Bedürfnislosigkeit der Menge zu be haupten. Die Kultur des einzelnen basiert auf einem inneren künstle rischen Erleben; Kulturarbeit aber für die Allgemeinheit hat als höchste Forderung diese zu erfüllen, der Menge den Blick für die Schönheit zu offnen, ihr jene Freude am Alltäglichen zu vermitteln, zu deren künstle rischem Genießen sic unter den Sorgen des Alltags niemals von selbst kommen wird. Da wir aber in einer Zeit leben, die gerade imWirtshaus als einem kleinen Staate im Staate seine Daseinsberechtigung unter dem Zwange sozialer Notwendigkeit gegeben, so mag cs heute doppelt be rechtigt sein, eine Frage anzuschneidcn, wie es möglich sein könnte, hier eine Veredelung Herbeizusührcn, deren Resultat man vielleicht in dem Worte „Wirtshauskultur" zusammcnfasscn könnte. Die soziale Institution des Wirtshauses in seiner heutigen Erschei- nunsform haben frühere Zeiten nicht gekannt. Ursprünglich war das Gasthaus nur dazu berufen, nichts anderes denn die momentanen Be dürfnisse nach Ruhe und Pflege des Körpers zu befriedigen. In dieser Form existiert das Wirtshaus heute noch an der Peripherie der Groß- stäbte, in kleinen Dörfern und Gegenden, die von der Kultur abseits liegen. Es ladet zu längerem Verweilen nicht ein; die Anspruchslosig keit der Menschen hat dieser Form auch äußerlich ihren Stempel aufge- prägt. Tas 19. Jahrhundert hat erst den neuen Zweck des Gasthauses entdeckt, nämlich die Geselligkeit vom Hause abzulenken und der Gastlich keit des eigenen Heimes gewissermaßen Konkurrenz zu machen. Aus dem Wirtshaus ist das Restaurant, aus diesem das moderne Hotel mit allem Luxus, seinem meist sinnlosen äußeren Komfort und all seinen törichten Extravaganzen geworden, für die der wirkliche Mensch von Kultur nur ein Lächeln übrig haben kann. Die Reize echter Gastlichkeit aber, wie wir sie dem Freunde nur im eigenen Heim, am Tische in unserem Hause bescheren können, wird das moderne Wirtshaus nie ersetzen können. An einem Orte, wo wahllos die Menschheit zusammcnströmt und die finan ziellen Mittel allein die gesellschaftlichen Klassen voneinander scheiden, kann aber doch bis zu einem gewissen Grade die Kultur des Hanfes wenigstens in ihrer äußeren Form ersetzt werden. Tenn gerade im Wirtshaus muß der erzieherische Wert eine gewisse Kultur doppelt wert voll für die Förderung der Menge sein. Man spricht von einer Kultur des Essens, wie von einer Kultur der Kleidung oder einer Kultur der Sprache. Das Wort Kultur will in solchem Zusammenhang den Zweck andeuten, daß sich die Dinge alltäg lichen Lebens mit einem höheren Form- und Stilgefühl vereinen sollen, das uns über die nüchterne Alltäglichkeit hinwegtäuscht. Solange der Mensch sich kleidet, lediglich um sich vor den Unbilden der Witterung zu schützen, solange er ißt. nur nm seinen Hunger zn stillen, unterscheidet er sich wenig von dem Tiere, daS seinen Winterpclz ebensogut anzicbl und heißhungrig seine Beute verzehrt. Man braucht kein Kulturfatzkc zn sein, wenn man sich auch bei Erfüllung dieser Dinge, die unsere Existenz gebieterisch fordert, zugleich das Bewußtsein eines höheren künstlerischen Genusses verschaffen will. Schon daß wir gelernt haben, anständig und manierlich zu essen, ist ein Beweis, daß wir der Kultur unsere Konzession machen. Das Wie ist in all diesen Dingen ausschlag gebend, und gerade bei diesem Kapitel ist es wichtiger, als es auf den ersten Blick scheinen könnte. Wer Paris kennt, wird sich mit Vergnügen der kleinen sauberen Speisehäuser erinnern, wo einem neben der Hochachtung vor einer mir echtem Kunstverständnis bereiteten Küche, vor allem das Gefühl so wohl- tuend überkommt, an einem sauberen Orte zu sein, wo alles so sehr zu behaglicher Ruhe einlädt. ES ist für uns heutige ein Unding und nur schlecht vereinbar mit dem übrigen Milieu, in dem sich der Gebildete zu bewegen pflegt, wenn wir im Wirtshaus an einem ungedeckten Tische unter Zuhilfenahme von Papierservietten mit Messer und Gabeln, die weder durch ihr Material noch durch ihre künstlerische Form hervorstcchen, unser Mit tagsmahl verzehren müssen, wie cs eine üble Münchner, durchaus rustikale Sitte sogar bis in die besten Bierhäuscr der Residenz ver pflanzt hat. Zu essen im Zigarrcnguolm, an einem Tisch mit Men- schen, die es nicht einmal der Mühe für wert erachten, die Kopf bedeckung ab-ulegcn. Solche Wirtshäuser sind fern von jedem Kultur begriffe — >o sehr sic auch durch die gute deutsche Gemütlichkeit, die oftmals gleichbedeutend ist mit einem Manko an Energie und Mcnsch- heitswürdc — geschützt und autgcheißcn werden. Auch im Getriebe der Großstadt können Gasthäuser bestehen, die zugleich erzieherisch und veredelnd wirken, wenn nur erst in uns selbst das Kulturbewußtsein stärkere Wurzel gefaßt und der Mensch den hohen künstlerischen Ge nuß begreifen gelernt hat, den er sich mit der Freude an Speise und Trank in künstlerischer Umgebung verschaffen kann. Es muß ein Ausgleich geschaffen werden, der imstande ist, das Milieu bunt zusam mengewürfelter Menschenmasscn für den einzelnen künstlerisch erträg lich zu machen. Wohlgemcrkt, die Kultur der Küche im Sinne des alten Lukullus sei an dieser Stelle ausgeschaltct, die Kultur des Wirts hauses darum doppelt betont. Ta sind cs oft schon Nebensächlichkeiten, die unS Freude bereiten können: der gedeckte Tisch, Messer und Gabel, Porzellan und die Form des Glases, alles unscheinbare Dinge und dach so unendlich bedeuttam, nm im Menschen ein ästhetisches Wohlbehagen zu wecken und erzieherisch zu wirken. Ich leugne nicht, daß cs heute schon eine Anzahl moderner Restaurants gibt, die unter solchen neuzeitlichen Kulturidccn entstan den sind, in die das moderne Kunstgewcrbe seinen Einzug geholten und in denen ein intimes Milieu erreicht wurde, in dem sich auch der Kulturmensch heimisch fühlen kann. Aber ich bestreite, daß die Menge das eigentliche Bewußtsein dieser Dinge je überkommt, weil die Er scheinungen in unserem heutigen Kulturleben noch viel zu vereinzelt sind und dabei die Absicht ihrer Existenz verloren geht. Ter wahre Segen einer Wirtshauskultur ist nur zu erreichen, wenn die Masse aus solchem Milieu künstlerische Eindrücke mit fortnimmt und sic im eigenen Hause nachwirken läßt. Auf solche Weise kann meines Er achtens ein ungeheuer erzieherischer Geist gerade durch die Wirtshäuser ins Volk hincinactraacn werden — aber die Vorbedingung dafür ist, daß unsere Bierhäuscr und Gasthäuser mit ihrem heutigen borbari'chen Abspeisilnassystem erst einmal auiräumen, dem modernen Kunstgewcrd« Tor und Tür ösfnen und den eigentlichen Wert ihrer Existcnzherechti-
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