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bundener (für uns unüblicher) Intervalle und der Beschränkung auf einen geringen Ton- raum der Melodie erklärt sich der eigentüm liche Klageton synagogaler Gesänge, der selbst Liedern zu Freudenfesten nicht fehlt. Die mit den schrecklichen Verfolgungen und Vertreibungen der Juden aus verschiedenen Ländern verbundene Anpassung an jeweils neue Kulturen brachte der jüdischen Musik in der Zeit vom 12. bis zum 18. Jahrhundert eu ropäische Elemente ein. Es entstanden einfa che, gleichperiodische Sangeslinien in festen Taktschemata, die „Steiger'* vermischten sich mit Dur-Moll-Tonleitern, die im synagogalen Gesang ursprüngliche Einstimmigkeit wich der Mehrstimmigkeit, und die komplizierten Melismen vereinfachten sich. Die ersten bekannt gewordenen Kompositionen synagogaler Ge sänge stammen von Salomone Rossi (um 1570 bis 1628), der im Zusammenhang mit der Einführung des monodischen Stils auch in die europäische Musikgeschichte einging: „11 Ebreo“ (Der Hebräer). Trotz seiner jüdischen Herkunft war es Rossi gelungen, zum führen den Musiker am kunstliebenden Hof der Her zöge von Mantua zu avancieren und 1623 Noten zu 30 Stücken aus dem Gebetbuch unter dem in deutscher Übersetzung lauten den Titel „Salomonische Gesänge, Psalmen, Hymnen und Tempelgesänge, komponiert nach den musikalischen Regeln zu drei, vier, fünf, sechs, sieben und acht Stimmen von Salomon Mehaadonim, geboren zu Mantua“ zu veröffentlichen. Mit diesen viel leicht ersten synagogalen Gesängen tauchte auch ein heute noch vorhandenes Notations problem auf: der hebräische Text läuft von rechts nach links, die Notenschrift jedoch in die entgegengesetzte Richtung. Rossi und auch viele spätere Komponisten gingen den Kompromiß ein, auf den allseits bekannten Text zu verzichten. Seit Rossi gibt es eine ganze Reihe namhafter jüdischer Komponi sten, die, zumeist von einem traditionellen Motiv am Anfang der Komposition ausgehend, eigenständige Werke synagogaler Musik schufen. Unter ihnen hebt sich Samuel Aiman (1879 bis 1947) hervor, der in dem südrussi schen Städtchen Sobolowka geboren wurde, mit 13 Jahren zu komponieren begann und 17jährig in das Konservatorium Odessa ein trat. Er diente vier Jahre in der russischen Armee als Musiker und mußte nach den Po gromen in Kischinjow 1905 nach London flie hen, wo er seine Studien am Royal College vervollkommnete und als Chordirigent der dortigen jüdischen Gemeinde wirkte. Aimans Schaffen umfaßt neben der erfolgreichen Oper „König Achas“ Kammer- und Orgelmu sik, zahlreiche Lieder, synagogale Komposi tionen und Bearbeitungen jüdischer Volkslie der. In seiner Synagogenmusik wird - ähnlich der von David Nowakowski (1848 bis 1921)- der Einfluß slawischer Musik spürbar. Samu el Alman gehört auch zu jenen Komponisten und Musikforschern, die Quellen jiddischer und hebräischer Folklore sammelten. Während uns die Synagogenmusik mit ihren europäischen Elementen trotz orientalischen Kolorits oft vertraut vorkommt, wirken jiddi sche und hebräische Folklore ursprünglicher und fremdländischer in unseren Ohren. Die zumeist nur handschriftlich überlieferten oder durch gegenseitiges Vorsingen lebendig gebliebenen Melodien entstammen jüdischen Gemeinden in Polen, Rumänien, Litauen und der Ukraine, die durch die Vertreibungen der Juden aus Deutschland im 13- und 14. Jahr hundert entstanden waren. Hier sprach man jiddisch: Eine Vermischung der mittelhoch deutschen Sprache mit hebräischen Brocken, russischen, polnischen und litauischen Wor ten. Es ist bis heute, in hebräischen Buchsta ben geschrieben, gebräuchlich. Wenngleich sich in den oft temperamentvollen Liedern wie in der Sprache Motive der Exilumgebung wiederfinden, so bleibt doch alles der elegi schen Grundhaltung in Moll-Varianten unter geordnet. Diese Volksmusik von Liebe und Leid, Trost und Hoffnung und der ständigen Sehnsucht nach Frieden zeugt vom Fühlen und Denken jüdischer Menschen.