Dabei wurde entweder der Originaltext des Psalms vertont oder auf Übersetzungen, Paraphrasen, Nachdichtungen und Kompilationen zurückgegriffen. Diese mehrstimmigen Psalmkompositionen dienten dann nicht mehr ausschließlich der festlichen musikalischen Umsetzung der Liturgie, sondern wurden auch zu Repräsentationszwecken oder im konzer tanten Rahmen aufgeführt. Bis heute reißt das Interesse vieler Musiker an diesen uralten Texten nicht ab, sie sind in unterschiedlichem Kontext wichtige Quellen von Glaube und Spiritualität. Im heutigen Konzertprogramm werden sechs ausgewählte Psalmen jeweils in unterschied lichen Vertonungen erklingen, die von jüdischen bzw. christlichen Komponisten aus den vergangenen vier Jahrhunderten geschaffen wurden. Der Leipziger Theologe Cornelius Becker gab 1602 eine deutschsprachige Neuausgabe der Psalmen in Reimform heraus, die sich im protestantischen Mitteldeutschland rasch verbreitete. Heinrich Schütz, der Dresdner Hofkapellmeister, legte bereits 1628 eine Verto nung dieses „Becker-Psalters" vor, indem er sämtliche Psalmen mit eingängigen Melodien und schlichten vierstimmigen Sätzen versah. Der Erfolg der Sammlung war bemerkens wert: In vielen Kantoreien und Schulen des Kurfürstentums Sachsen wurden die Psalmen künftig in diesen Vertonungen gesungen, so dass noch im 17. Jahrhundert mehrere Nach auflagen, Revisionen und Bearbeitungen der Schütz-Kompositionen angefertigt wurden. Stilistisch stark beeinflusst von Schütz war eine Generation später Andreas Hammer schmidt. Viele Jahre wirkte er als Organist an der Zittauer Johanniskirche und veröffent lichte in dieser Funktion zahlreiche Drucke mit geistlichen Werken. „Etwas Neues erschafft der Herr im Land" - diesen Vers aus dem Buch des Propheten Jeremias ließ Salomone Rossi Hebreo auf das Titelblatt seiner Sammlung „Die Gesän ge Salomons" drucken. Und tatsächlich stellte der 1623 erschienene Notenband etwas vollkommen Neues dar: Es handelt sich um die früheste überlieferte Sammlung mit mehr stimmigen Vertonungen von liturgischen Gesängen in hebräischer Sprache. Jahrhunder telang war der jüdische Synagogalgesang ausschließlich einstimmig vollzogen worden, nun lagen erstmals in einem modernen Druck polyphone Psalm- und Gebetsvertonungen vor. Entstanden ist diese musikhistorische Novität in Mantua, wo Rossi als Hofmusiker bei den Gonzaga tätig war und gleichzeitig aktiv in der jüdischen Gemeinde mitarbeitete. Einige Jahre war Rossi dort übrigens ein unmittelbarer Kollege von Claudio Monteverdi, der in Mantua als Hofkapellmeister wirkte und später an die Basilika San Marco in Ve nedig wechselte. Salomone Rossis Sammlung mit mehrstimmiger Synagogalmusik von 1623 blieb lange Zeit eine Ausnahme. Erst am Beginn des 19. Jahrhunderts kam es allmählich zu einer Reform der ansonsten weiterhin einstimmig praktizierten Musik in der jüdischen Liturgie. Maßgeblich verantwortlich für diesen Wandel war Salomon Sulzer, der 1826 in Wien zum