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Draußen aber erhebt er den leuchtenden Mick zum Abendhimmel und dankt still und stumm, nur mit dem Herzen, dem Allmächtigen für diesen neuen, köstlichsten Steg, für die Verbrüderung von Nord und Süd. Buntes Feuilleton Auf der Suche nach einer Mutter. Eine rätselhafte Kinderaeschichte bildet im'Nordosten Berlins das Tagesgespräch. In der Zorndorfer. straße 57 wohnt eine 54 Jahre alte Arbeiterwitwe Gärtke, die seit zwölf Jahren, seit dem Tode ihres ManneS, ihren Lebensunterhalt dadurch erwirbt, daß sie Kinder in Pflege nimmt. Am S. August kam zu Frau Gärtke eine Frau im Anfang der dreißiger Jahre, die sich Kunisch nannte und sagte, sie sei die Gattin eines Kaufmanns, der in der Linienstraße 11 wohne. Sie erzählte der Pflegerin, daß sie mit ihrem Manne eine kleine Sommerreise machen wolle, und bat sie, ihr ein zige- Kind, einen drei Monate alten Knaben, auf acht Tage in Pflege zu nehmen. Nach ihrer Rückkehr werde sie ihn wieder abholen. Die Erzählung klang so natürlich, daß Frau Grätke kein Bedenken trug, den Kleinen anzunehmen, ohne sich vorher über die Person weiter zu erkundigen. Nach sieben Tagen schrieb ihr die angebliche Frau Kunisch vom Riesengebirge aus, ihr Mann und sie hätten unterwegs eme bekannte Familie getroffen und sich entschlossen, mit dieser noch eine kleine GebirgSreise zu machen. Sie möge den Kleinen unterdessen nur ja recht gut pflegen und bis zu ihrer Rückkehr auf unbestimmte Zeit behalten. Das Kind war von Anfang an nicht sehr gesund und wurde schließlich von dem Arzt Dr. Hagedorn aus der Zorndorferstraße behandelt. Trotz der ärztlichen Hilse ober starb es am vergangenen Freitag an allgemeiner Körperschwäche. Frau Krätke eilte nun nach der Linienstraße 11, um sich nach dem Aufenthalt der Eltern, die sie von dem Trauerfall benachrichtigen wollte, zu erkundigen. Zu ihrem Schrecken aber er fuhr sie, daß in diesem Hause, das seit 24 Jahren seinen Besitzer nicht wechselte, ein Kaufmann Kunisch nicht gewohnt hat. Auch die Nachforschungen, die nun bei allen hiesigen Einwohnern, die den Namen Kunisch führen, angestellt wurden, hatten ein nega- tiveS Ergebnis. Die Pflegemutter ist getäuscht worden, und niemand weiß bisher, wo die Eltern des toten Kindes sind. Briefkasten I . . . Der Briefkastenonkel kann Ihnen nur raten, sich an einen tüchtigen Spezialarzt, nicht aber an einen Quacksalber zu wenden. Sitzbäder nimmt man in der bekannten Sitzbadewanne. Bezweckt man mit ihnen eine Stärkung der vom Bade um spülten Teile (z. B. bei Geschlechtsleiden), so beginne man mit 28" L und 5—15 Minuten Dauer und gehe allwählig auf 18—15" L und 5—10 Minuten Dauer herab. Sollen sie ableitend wirken (z. B. bei Blutandrang nach dem Kopfe und seinen Folgen), so beginne man ebenfalls mit 25" R und gieße während des Badens langsam kaltes Wasser zu, bis 22—20, ja 18" R erreicht sind. Die Dauer be trägt 30—60 Minuten. Will man erregen, auf lösen, zerteilen, so nehme man keine niedrigenTempera- turen (etwa 25" R) und verweile dafür länger ('/z—1 Stunde ja noch länger) im Bade. — Im Bade zu lesen ist verboten. I. D. Sie dursten den Hausierer nicht so behandeln, wie Sie es getan haben. 8 60 o der deutschen Gewerbeordnung lautet zwar: „Zum Zwecke des Gewerbebetriebs ist „ohne vorgängige Erlaubnis" der Eintritt in fremde Wohnungen so wie zur Nachtzeit das Betreten fremder Häuser und Gehöfte nicht gestattet. Die „vorgängige Erlaubnis" besteht aber nur darin, daß der Hausierer sich zu vergewissern hat, daß ihm der Eintritt gestattet wird, er hat sich also durch Klingeln, Antlopfen, Rufen oder wie fonft immer bemerklich zu machen und abzuwarten, ob ihm durch Oeffnung der Tür, Zuruf des Hereins, oder in anderer Wehe der Ein tritt gestattet wird. Solange ihm diese Erlaubnis nicht erteilt wird, hat er vor der Tür zu bleiben und nicht eigenmächtig einzutreten. O. R . . Wir bedauern Sie. Doch nur Mut. Gedenken Sie der Schillerschen Verse, die da lauten: „So lang ist keine Nacht Daß endlich nicht der Helle Morgen lachte Humoristisches. Bettlerfrechheit. Hausfrau: „Sie können sich ein MittagSeffen verdienen, wenn Sie mir den Haufen Holz da klein machen I" — Bettler. „Hm! . . . wat haben Sie denn gekocht?" Humor des Auslandes. Ein Ire stand vor Gericht. „Können Sie jemand namhaft machen, der für Ihren guten Charakter birgt?" fragte der Richter. „O ja, den Polizeipräsidenten." Der Polizeipräsident wurde vernommen uud jagte, er kenne den Mann über- Haupt nicht. „Sehen Sie," rief der Jre„ „seit 20 Jahren wohne ich in seinem Polizeideznck und er kennt mich nicht. WaS wollen Sie mehr?" Lesefrüchte. Was ist daS Leben, wenn die Ehre fehlt. Wen« man dem Mann die eig ne Achtung raubt Und ihn zum Borwurf für sich selber macht? — Max Ring. Enterbt Roman. Nach dem englischen frei bearbeitet von Klara Rheinau. 44. Fortsetzung. (Nachdruck verboten.) »Ich muß es tragen wie ein Mann," sagte er traurig. „Aber eines, mein Liebling, eine« müssen Sie mir gestatten — lassen Sie mich der Welt verkünden, welch süßes Lieb ich mir gewonnen". „Noch nicht," erwiderte sie. „Ich glaube, Lady NeßlieS größter Wunsch im Augenblick ist, daß ich mich verheirate und Lancewood verlasse. Ich möchte nicht, daß sie jetzt schon etwas von — von unserer Liebe erführe — eS würde meine Schwierigkeiten nur vermehren". Er küßte ihre weißen Hände. „Ihr Wunsch ist mir Befehl," sagte Lord St. Just zu Bivien. „Ich will zufrieden sein mit dem, was ich errungen. Aber vergessen Sie niemals, Vivien, daß ich von nun an das Recht habe, Ihnen in allem zur Seite zu stehen. Ich bin an Stelle des Vaters, Bruders und Freundes. Mein süßes Lieb, Sie werden mir all Ihren Kummer, all Ihre Sorgen anvertrauen; Sie werden alles leichter er tragen, wenn Sie jemanden haben, der Ihren Schmerz mit Ihnen teilt. Sollte die Zeit kommen, wo Sie eines Freundes bedürfen, so wird mich ein Wort an Ihre Seite bringen und ich will Sie gegen die ganze Welt verteidigen. Schon begannen die Sterne am Himmel zu erscheinen, als die Liebenden endlich das HauS wieder betraten. Bivien zog sich sogleich auf ihr Zimmer zurück, sie mußte allein sein mit ihrem Glück. Lady Smeaton trat zu Lord St. Just. «Ich hoffe, Sie haben gute Nachrichten für mich," sagte sie. „Liebe Lady Smeaton," erwiderte er, gerührt durch ihr warmes Interesse, „ich habe nicht alles erreicht, was ich wünschte; aber ich habe doch einen kleinen Fortschritt gemacht. Ich verzage nicht." Am folgenden Morgen kehrte Vivien nach Lancewood zurück. Die Trennung von den Freunden, besonders von ihrem Geliebten, tat ihr weh! aber als sie durch die liebliche Gegend dahinfuhr, wurde ihr Herz warm bei dem G.danken an die Liebe, die wie das Lächeln eines Engels vor ihr aufgegangen war und ihr ganzes Leben geändert hatte. O, wenn sich der Himmel nur ihrer erbarmen, ihr helfen wollte, Lancewood zu retten und dem Ge liebten als seine Gattin in sein Heim zu folgen! Es war eine lange Fahrt von Smeaton Park nach Lancewood. Als der Wagen sich der Abtei näherte, schien es Vivien, als ob eine ungewöhnliche Bewegung im Park herrschte. Sie hörte den Klang von Mu sik, sie sah Fahnen wehen, Zette errichtet und eine Menge Leute, die sich zwischen den Bäumen be wegten. Jetzt hielt der Wagen an dem vorderen Tore. Niemand war zu ihrem Empfang bereit. Die Dienstboten schienen sämtlich abwesend zu sein. Wiederholtes Läuten brachte endlich einen verwirrt aussehenden Lakaien herbei. „Was ist los?" fragte Miß Neßlie. „Was geht hier vor?" „Ein Jahrmarkt, Miß," erwiderte der Mann. Das Haus schien ganz verödet zu sein. Vivien schritt durch die große Eingangshalle, durch die langen Zimmereien und sah niemanden. „Wo ist Mr. Dorman?" fragte sie den Lakai, der ihr folgte. „In seinem Zimmer, Miß," war die Er- widerung. „Bitten Sie ihn, hierher in die Bibliothek zu mir zu kommen," sagte sie. „Melden Sie ihm so gleich meine Rückkehr." Wenige Minuten später stand Gerald Dorman vor Miß Neßlie und blickte sie verwundert an. Der müde Ausdruck war aus ihren Zügen verschwunden, die frische Farbe zurückgekehrt; die dunklen Augen strahlten. Bivien reichte ihm zur Begrüßung die Hand, aber Gerald fand keine Worte. Er verwandte keinen Blick von dem Antlitz, das ihm das liebste war auf der Welt. „Sie scheinen überrascht," sagte Vivien mit freundlichem Lächeln. „Ich freue mich, Sie wieder zusehen, Herr Dorman, — warum sehen Sie mich so verwundert an?" „Sie sind so verändert," antwortete Gerald. — „Etwas — ich kann nicht sagen was — ist aus Ihren Zügen verschwunden; und etwas - ich kann wieder nicht sagen was — ist an dessen Stelle ge treten." Sie errötete heiß. Konnte man denn die Ge schichte ihrer Liebe in ihrem Antlitz lesen? «Ich habe glückliche Tage verlebt." sagte sie. „Es war eine große Wohltat für mich, diesem wüsten Treiben hier für kurze Zeit entronnen zu sein. Ich traf sehr liebenswürdige Gesellschaft in Smeaton Park. Aber, Herr Dorman, was geht hier vor?" „Ein Jahrmarkt," erwiderte er, — „die letzte Grille der gnädigen Frau. Ich bedaure fast, daß Sie zurückkamen, ehe dies vorüber war." Ich glaube nicht, daß je zuvor eine solch gemischte Gesellschaft in Lancewood versammelt war." „Ein Jahrmarkt! Aber warum hat Lady Neßlie dies veranstattet?" „Ich weiß eS nicht, Miß Neßlie. In der ganzen Nachbarschaft wurde viel darüber gesprochen. Sie müssen in der Tat auf sehr angenehme Weise beschäftigt gewesen sein, wenn Sie nichts davon ge hört haben." Wieder errötete Vivien bei der Erinnerung an ihre Beschäftigung während der letzten Tage. „Lady Smeaton sprach nie von Lancewood," sagte sie, „da sie wußte, daß dies ein unliebsames Thema für mich war. Ich bezweifle übrigens, daß sie davon hörte." „Jedermann in der ganzen Grafschaft Hötte davon," erklärte Dorman. „Man hätte für die Groß- jährigkeitserklärung eines Prinzen keine größeren Vorbereitungen treffen können. Die letzten zwei Tage waren Gunters Leute von London hier; wir haben Walls und FinfordS Musikkapelle. Der male rische Teil der Geschichte übersteigt jede Beschreibung. Da sind Zelte mit Zigeunern, die wahrsagen, Ty- roler, Schweizer und italienische Bauern. Da ist Tanz, Preisschießen und jede Art von Unterhaltung." „Und wer sind die Gäste?" fragte Miß Neßlie. „Ich sah nur wenig bekannte Gesichter unter ihnen," erwiderte er. „Die gnädige Frau hat sich in der letzten Zeit bei der sehr gemischten Gesellschaft von Hydewell populär zu machen gesucht, da die Aristokratie der Grafschaft entschieden ihre Einla dungen ausschlägt. Die Kurgäste, von denen viele nur unter dem Vorwande, die Quellen zu gebrauchen, dorten sind, haben angenommen und bilden nun mit ihren Frauen und Familien den größten Teil der Gäste. Dann ist wieder ein neuer Zuzug von Paris angekommen, von derselben Art, wie der erste. Ich sprach gestern Sir Harry Lane, und er meinte, es fei gar nicht vorzusehen, was aus Lancewood werden würde?" „Lancewood soll nicht zu Schaden kommen," sagte Vivien mit blitzenven Augen. „Und Sie haben sich der Gesellschaft nicht angeschloflen, Herr Dorman?" „Nein," war die ruhige Erwiderung. „Und Holmes, der Hausmeister, hat Lady Neßlie beleidigt. Er sagte ihr, er sei nur gewohnt, LadyS und Gent- lemen zu bedienen. Die gnädige Frau hätte ihn sofort entlassen, wenn nicht Herr de Nouchet gesagt hätte, niemand als Holmes verstände sich auf die Wein?." Ein Rauschen von Seide wurde jetzt hörbar, der Duft eines feinen Parfüms schien das Zimmer zu erfüllen. Vivien wandte sich um und erblickte Lady Neßlie, welche sie mit spöttischem Lächeln beobachtete. „Wie geht es Ihnen, Vivien?" fragte sie. „Ich hatte ganz vergessen, daß Sie heute zurückkehren wollten. „Sie finden uns inmitten eines brillanten Festes." „Ich sehe eine Menge fremder Leute hier, Lady Neßlie," bemerkte Vivien mit Nachdruck. „Ja, das glaube ich," war die gleichgültige Er widerung. „Ich war so frei, mir meine eigenen Be- kannten zu wählen. Aber ich erwartete kaum ihre Rük- kehr, Vivien. Fanden Sie keinen Bewunderer unter Lady Smeatons Freunden?" Die Röte der Entrüstung verbreitete sich über Vivien Antlitz. „Sie vergessen sich, Lady Neßlie," sagte sie kalt. „Nein, meine Liebe, dies tue ich nie," lachte Mylady. „Aber ich meinte etwas derartiges gehört zu haben. Sie werden sich doch jetzt meinen Gästen zugesellen, Vivlen? „Ich denke nein. Ich kenne sie nicht, Lady Neßlie." „Sie sind sehr amüsant — weit mehr, als Eure steifen Komtessen. Ich für meinen Teil habe einen Widerwillen vor der englischen Aristokratie." „Und diese erwidert das Kompliment," sagte Vivien. Aber Mylady ging lachend zurück zu ihren Gästen. 27. Kapitel. Vivien wußte nicht, wie sie diesen Tag herum bringen solle, die Zeit wurde ihr entsetzlich lang. Sie wanderte durch die verlassenen Zimmer; sie blickte auf in die edlen Züge der toten Neßlies an den Wänden; sie gedachte des Mannes, den sie lieben gelernt hatte. Sie betrachtete lange und sehn süchtig das Bild ihrer Mutter. Die Klänge der Musik drangen aus dem Park zu ihr herauf. Als sie den Speisesaal durchschritt, bemerkte sie die Vor bereitungen zu einem großen Bankett, und auch den Ballsaal fand sie prächtig dekoriert. Sobald der Tanz im Freien unmöglich wurde, sollte er hier fortgesetzt werden. Konnte dies Lancewood sein, das herrliche, statt liche Heim, das kein Unwürdiger je betreten — dieses verödete Haus, dessen Dienerschast verstört durch einander rannte, durch dessen geöffnete Fenster der Klang lauten Gelächters hereindrang? Mehrere Stunden später sah man die erhitzten, wüsten Gäste in das Haus treten. Niemals hatte eine solch gewöhnliche Gesellschaft in der Abtei ge weilt. Vivien bemerkte soi-äisLvt Militärs mit un geheuren Schnurrbärten und großen Zigarren, mit Putz und Flitter überladene Damen in den Räumen, die ihr heilig waren, weil ihre Eltern darin gewohnt hatten; sie hörte das laute unmäßige Gelächter von Leuten, deren Anwesenheit ihr ein großes Unglück dünkte. Sie mischte sich nicht mehr unter die Menge — nur wenige fragten nach ihr; die meisten wußten gar nichts von ihrer Existenz. Die einst so gefeierte viel umworbene Herrin des Hauses war nun wenig mehr, als eine bloße Null; niemand nahm Notiz von ihr. (Fortsetzung folgt.) Redaktion, Druck und Berlag von Otto Koch in Lichtenstein.