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WM-WUtMNzM —— — SS. Jahrgang. - Beilage zu Nr. 1. Donnerstag, den 1. Januar 1903. Gnadenbund. L. 6. die MV»»». Volk, und aller Fürsten Schwerter müssen den Kreuz griff haben und alle Fürstenstäbe Herrscherstäbe sein und Hirtenstäbe zugleich. — Alle Rathäuser und Richthäuser müssen die Inschrift haben: Sehet zu, was ihr thut, denn ihr haltet das Gericht, nicht den Menschen, sondern dem Herrn, und er ist mit euch im Gericht. — Alle Pastorenhäuser: Des Priesters Lippen sollen die Lehre bewahren und solche Inschrift müsse stehen in lebendigen Menschenherzen zum Lobe des Herrn Zebaoth. — Für die Schulhäuser nichts Besseres denn dies: Die der Geist Gottes treibt, die sind Gottes Kinder. — Den Wirtshäusern gebührt über der Stubenthür ein Schild wie vor Zeiten in einer Weinstube in Zittau: Fluchen, Schwören, Lästerwort wird ernst verboten an diesem Ort. — Alle Bürgerhäuser seien voll im neuen Jahr des Heils: des Gotteswortes, des Gottesliedes, des Gottesdienstes — alle Bauernhäuser: Es müsse früh bei ehrlichen Schwielen an den Händen nimmer fehlen zur Notdurft täglich Brot, und auf den Tischen das liebe Gotteswort — — so etwa der alle Neujahrs wunschzettel. Dazu aber ein orts- und zeitgemäßer Anhang; denn jener scheint nichts gewußt zu haben von Webern und Bergleuten. Alle Bergleute müssen zurückgewinnen die alte ehrwürdige Bergmannshoheit. Ihr Glückauf müsse eine christliche Bedeutung haben. Sie müssen nicht in die finstern Schächte und Stollen der Erde hinabfahren, ohne zuvor in die lichten, reinen Schächte und Stollen des Evangeliums ein gefahren zu sein. Knappschaftsandachten und Knappschaftsseelsorger sollten sie haben, wie sie Knappschaftskasfen und Knappschaftsärzte haben. — Alle Weber und Wirker aber müssen geachtet sein als solche, die selber achten auf den, der im Webstuhl der Zeit und Weltgeschichte sitzt, und wenn er einen Schuß thut, wirds Tag und Nacht, und hat er ein Stück fertig, so ists ein Jahr, und schenkt er einem 50 oder 7Ö lavon oder auch nur 1 und 2, so ists ein Menschenerdenleben, und ob man viel hat oder wenig: Er prüft, wie man seine Gabe verwendet und gehalten hat. Die Tuge fliehen und tauchen nieder, die Jahre schwinden wie ein Rauch: Du sprichst: Ihr Menschen kommet rriederl und nimmst sie weg mit einem Hauch. Laß Trost und Frieden neu verkünden den Herzen, die zer schlagen sind. Zerbrich das Joch der alten Sünden und rette das verirrte Kind. Vergieb uns Herr, was wir bereuen, und lege Du den . bessern Grund, Auf dem wir Tag für Tag erneuen den sestgeschlossnen Politische Jahresrnndschau (Fortsetzung und Schluß.) In der auswärtigen Politik des Reiches ragte am 28. Juni vollzogene Erneuerung des Sylvester — Neujahr. 1902 dahin! dahin! Ä!it ihm viele Freuden dahin, sie kommen manch einem nie wieder. Mit ihm auch manch Leid dahin. Mags dahin sein; es soll ganz dahin sein! Sylvester sei ein Abschnitt, über den die alten Lasten und Schulden möglichst nicht mit herübergenommen werden s denn jede Last ist auf irgendwie eine Schuld. Man mache ab, was sich abmachen läßt. Man behalte nicht altes Werg am Rocken. Sylvester ist bedeutsam als ein Ultimo, der respektiert zu werden verdient auch von dem Gewissen. Es ließe sich vielleicht noch manches gut machen im Beweis der Treue, der Liebe, der Dankbarkeit, der Vergebung, die man sucht und giebt; und anderes was heute ausgeführt gleich den Anfang des neuen Jahres wüst macht, könnte noch unterlassen werden, wenn dem Gewissen sein gut Recht gelassen würde! — Wenn! Dem neuen Jahr gegenüber giebts vermutlich kein „Wenn". Man begehrts und es kommt 1903. Es kommt mit der Schnelligkeit des Pendelschlags — Tick-Tack — Unbesorgt! Es kommt. Aber was kommt mit ihm? Wers wüßte! Für die große wandernde und wartende Menschheit unter Gottes ewigen Sternen hals etwas Unheimliches, so im Finstern zu tappen. Darum wohl füllt man sich die Zukunft aus mit freundlichen Bildern und guten Wünschen. Recht so! trotz vielen unnützen Aufwandes . Labei! Wenns nur auch wirklich gute uns von Herzen kommende, Glück einschließende Wünsche sind. Es existiert da ein alter, vielleicht etwas un modern gewordener aber wahrhaftig Glück ein schließender Neujahrswunschzettel für allerlei Volk, der zudem den Vorteil bietet, daß er den Menschen gewissermaßen zu seines eignen Glückes Schmied macht: Da heißt es unter anderem: Alle Fürsten häuser müssen sein vor dem Herrn als Burgen und feste Schlösser, seinen Namen hochzuhalten vor allem Zuru neuen Jahre Der große Dichter und Denker Wolfgang von Goethe schildert in seinem tiefsinnigen dramatischen Fragment „Prometheus" die Eigenart des mensch lichen Loses und ruft fragend und mahnend aus: Hat mich nicht zum Manne geschmiedet die allmächtige Zeit und das ewige Schicksal? — Mit diesen geni alen Worten werden zwei der größten Weisheits lehren zugleich gesagt. Ueber des Menschen Leben waltet eine ewige höhere Macht, der er niemals ent rinnen kann, aber innerhalb der jedem Menschen verliehenen Lebensdauer ist auch eine schöne Ent wickelung möglich, die ihn zum thatkräftigen Manne reifen und gute Werke zu vollbringen Zeit und Raum läßt. Wenn daher das alte Jahr wiederum zur Rüste geht, und das junge Jahr seinen Lauf be ginnt, so erkennt der Mensch am ehernen Gang des Schicksals, an den Ereignissen der Vergangenheit, an Tod und Leben, an Glück und Unglück, das eine höhere Macht die Welt und den Werdegang der Menschheit bestimmt, daß es ihm aber auch vergönnt ist, seine Kräfte zu regen und den wunderbaren Entwickelungsprvzeß, den unsere Erde und die Menschheit seit Jahrtausenden zeigt, zu erkennen, zu bewundern und fördern zu helfen. Dann darf der Mensch auch nicht dem Größenwahn verfallen und der Einbildung leben, daß :r innerhalb dieser Welt alle Kultur allein vollbringe, so steht doch so viel fest, daß jeder strebsame Mensch ein kleines Glied in der unendlich großen Schaffenskette ist, und jeder als Arbeiter auf einen bestimmten Posten gestellt ist, wie ihn Geburt, Talent, Fleiß und Charakter zeitigen. Und so kann eine Neujahrsbe trachtung nur dann einen Wert haben, wenn wir sie vom Alltagsleben loslösen und von einer höheren Warte aus prüfen, was allen Menschen und allen Völkern frommt, denn thäte man dies nicht, so ge riete man niemals aus der engherzigen Beurteilung, aus den Tagcskämpfen, Mühen und Lasten heraus. Neues Leben und Streben, neues Hoffen und Ver trauen, neues Schaffen und Arbeiten sind aber die edelste und schönste Mahnung und Losung des neuen Jahres, und ihre Nacheiferung birgt zugleich auch die schöne Glückverheißung in sich, die allein in dem erfolgreichen Kampfe und der Arbeit für das Gute und das Notwendige, aber niemals allein nur in dem Besitze vergänglicher irdischer Schätze liegen kann. Wenn das ganze moderne Leben, mit seiner Unrast, seiner Nervosität, seinem unbefriedigten Wesen irgend etwas beweist, da zeigt es eben, daß das Leben der Güter höchstes nicht ist, wenn dieses Leben nicht zugleich auch fähig ist, zu kämpfen, zu entsagen und sich in Liebe für das allgemeine Wohl hinzugeben. Dreibundsvertrages zwischen Deutschland, Oesterreich-Ungarn und Italien als ein markanter Vorgang hervor, durch welchen der Fortbestand der mitteleuropäischen Tripelallianz, dieser eigentlichen Grundlage des europäischen Friedens, auf eine Anzahl weiterer Jahre gesichert worden ist. Andrerseits geht Deutschland allerdings im Zeichen einer inter nationalen Verwickelung in das Jahr 1903 hinüber, derjenigen mit Venezuela. Im Verein mit England, das ebenfalls, wie das deutsche Reich, Entschädigungsansprüche an Venezuela geltend machen mußte, hat sich Deutschland zu ziemlich scharfen Maßnahmen wider dies verlvdderte süd amerikanische Staatswesen veranlaßt gesehen, haupt sächlich zur Blockade der venezolanischen Häfen. Inzwischen ist jedoch der ganze Streitfall in das allmähliche Stadium einbr wahrscheinlichen schieds gerichtlichen Behandlung eingetreten, so daß vielleicht seine baldige Beilegung zu erwarten steht. Oesterreich-Ungarn hatte auch im Jahre 1902 an der leidigen Ausgleichsfrage tüchtig zu kauen. Immer wieder wurde bald zu Wien, bald zu Pest in Konferenzen der beiderseitigen Mi nister über die Erneuerung des wirtschaftlichen Aus gleiches zwischen den beiden Reichshälften unter handelt. Nunmehr soll endlich, wie verlautet, dies schwierige und mühsame Werk dicht vor seinem Ab schlusse stehen. Was dann Oesterreich speziell anbe langt, so traten daselbst neue Versuche hervor, eine Verständigung zwischen Deutschen lind Czechen zu erzielen, womit dann die eigentliche Quelle des be dauerlichen Nationalitätenhaders in Oesterreich ver stopft wäre. Einstweilen sind indessen die jüngsten deutsch - czechischen Verständigungsverhandlungen wiederum, wie alle gleichen vorangegangenen Unter handlungen, gescheitert. Zu den meisten österreichischen Einzellandtagen fanden Neuwahlen statt, wobei die Antisemiten in Niederösterreich einen vollständigen Sieg über ihre liberalen Gegner davontrugA,. In Ungarn starb der ehemalige Ministerpräsident Kolo» man Tisza, der auch nach seinem Ämtsrücktritt eine sehr einflußreiche Persönlichkeit im Magyarenlande geblieben war. Italien erlebte einen anfänglich recht scharf einsetzenden diplomatischen Konflikt mit der Schweiz, der sich aus der Verunglimpfung des Andenkens des ermordeten Königs Humbert durch ein schweizerisches Anarchisten blatt entwickelte. Der Streit wurde indessen schließlich durch gegenseitiges Einlenken beigelegt, gewissermaßen zur Besiegelung des wiederhergestellten Einvernehmens zwischen den beiden Nachbarstaaten nahm König Victor Emanuel gelegentlich seiner Berliner Reise einen kurzen Aufent halt auf der bekannten Eisenbahnstation Göschenen, wo er durch die Vertreter der eidgenössischen Re gierung offiziell begrüßt wurde. Im Juli führte König Victor Emanuel seinen Antrittsbesuch am Hofe von St. Petersburg aus. Dem Königspaare wurde mit der Geburt der Prinzessin Mafalda ein zweites Töchterchen zu teil; dagegen läßt der vom ganzen Lande sehnlichst gewünschte Thronfolger noch immer auf sich warten. In der venezolanischen An gelegenheit tritt Italien Seite an Seite mit Deutsch land und England auf, da es gleichfalls Entschä digungsansprüche an Venezuela geltend gemacht hat. Frankreich sah im Jahre 1902 den ersten Kabinettswechsel nach drei Jahren wieder. Das Ministerium Waldeck-Rousseau, das bisher langlebigste der dritten Republik, trat im Juni zurück, und zwar freiwillig, es wurde durch ein radikales Kabinett Combes ersetzt. Dasselbe stürzte sich alsbald in einen kirchenpolitischen Kampf gegen die Congce- gationen und die oppositionellen Bischöfe, in welchem' die Combes'sche Negierung bislang entschieden Sieger geblieben ist. Der nationalen Selbstgefälligkeit und Eitelkeit des Franzosenvolkes wurde durch die Reise des Präsidenten Loubet nach Petersburg zum Besuch des Zaren Nikolaus geschmeichelt. Zu einem natio nalen Trauerereignis für Frankreich gestaltete sich das Ableben des berühmten Romanschriftstellers Emil Zola, der infolge Einatmung von Kohlenoxydgas starb. Eine schwere Elementarkatastrvphe suchte die französische Insel Martinique heim, welche durch einen furchtbaren Ausbruch des Vulkans Pelöe zur Hälfte verwüstet wurde, wobei über 40 000 Menschen den Tod fanden. Die inneren Zustände Rußlands ließen auch im Jahre 1902 manches zu wünschen übrig. Dies bewiesen namentlich die zahlreichen Arbeiter und Studentenrevolten und die Ermordung des reaktionären Ministers des Innern, Schipagin, durch einen relegierten Studenten. Der Kurs der inneren Politik des Zarenreiches wurde indessen durch alle diese Ereignisse nicht geändert, wie schon aus der Ernennung des Senators Plehwe, eines fanatischen Vertreters des Altrussentums, zum neuen Minister des Innern erhellte. Auch der Rücktritt des liberal angehauchten Unterrichtsministers Wannowski be deutete eine Konzession an die Altrussenpartei. Die Hoffnungen des Zaren Nikolaus und des ganzen Landes auf die endliche Geburt eines Thronfolgers erlitten durch die Fehlgeburt der Zarin abermals eine herbe Enttäuschung. Nach außen blieb die Politik Rußlands eine kluge, feste und zielbewußte, womit auch die begonnene Räumung der südlichen Mandschurei seitens der russischen Truppen in keinem Widerspruch steht, denn der beherrschende Einfluß Rußlands auf die Mandschurei bleibt trotzdem gesichert. England erlebte die große Genugthuung, daß mit dem Friedensschluß zu Pretoria am 31. Mai 1902 der lange und blutige Burenkrieg seinen Abschluß zu Gunsten Englands fand, dem nunmehr die Transvaal-Republik und der Oranjefreistaat als willkommene Beute zufielen. Ob hiermit das britische Uebergewicht in Südafrika definitiv ent schieden ist, das muß freilich noch immer dahinge stellt bleiben. Zu einer aufregenden Episode für die ganze britische Nation gestaltete sich die gefähr liche Erkrankung König Eduards an Blinddarment zündung, und die hierdurch notwendig gewordene Operation König Eduards auf Leben und Tod. Letztere gelang zwar vollständig, doch mußte die auf den 26. Juni angesetzt gewesene Feier der Krönung des Königspaares verschoben werden, und zwar fand sie dann am 9. August zu London in prunkvoller Weise statt. Im Juli trat der greise Premierminister Lord Salisbury von seinem Posten zurück, auf welchem er durch den bisherigen Finanz minister A. Balfour ersetzt wurde. Noch in Ver letzten Wochen des alten Jahres wurde dem König Eduard ein Enkel durch die glückliche Entbindung der Prinzessin von Wales von einem Prinzen ge» baren. Als „Friedensenael" ist der Kolonialmmistec Chamberlgin nach Südafrika gegangen, wo er nach dem langen Burenkriege eine Aera der allgemeinen