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Den 7. März IO L88« Sonntags Crtrabellage zu den „Bautzener Nachrichten". war, das eben gehörte Lied einzutragen. — Nach einer kurzen Pause zogen die Burschen landein, aber der Sänger hatte wieder begonnen, offenbar die selbe Melodie; nur die Worte konnte Billa nicht mehr verstehen. Ihr fröstelte, sie zog das Mäntelchen fester um sich und stand auf. Die Sonne war hinter einer dicken grauen Wolkenschicht verschwunden, die sich von Westen her auftürmte, und der Wind hatte sich erhoben und trieb sein Spiel mit den welken Blättern am Boden. „Es wird Herbst", sagte sie leise, „aber es kommt immer wieder ein Frühling, und ward der Winter auch noch so hart — Hoffen und Warten." XI. Der Umzug in den Gertraudenhof war vollendet; glücklicherweise noch bei trockener Witterung, denn heute fiel unaufhörlich ein naßkalter feiner Nebel, und Herr Carstens gratulierte sich, die Sache so energisch betrieben zu haben. Im Lindwurm befanden sich nur noch die Utensilien und Möbel der Geschäftsräume und der Wohnung des Küfers, der Lehrlinge und eines Älteren Mädchens, welches für die Verpflegung des Personals zu sorgen hatte; später sollte dies alles meist meistbietend verkauft werden. Heute morgen nun gegen zehn Uhr begab sich Herr Carstens vom Ger traudenhof nach dem Lindwurm, genau wie er es einst zur Blütezeit seine- jungen Glückes gethan hatte, ehe er als Witwer in die Stadt zog. Die Er innerung an damals drängte sich ihm unwiderstehlich auf; er gedachte der Freude, die er empfunden, wenn er dann nach beendeter Arbeit wieder die Stadt im Rücken hatte und sein Weib ihm im Schatten der Kastanienallee entgegenkam, um ihn ins trauliche Heim zu führen. Und jetzt wohnte dort, in denselben Räumen, wieder ein junges Wesen, und wie täuschend glich sie der Mutter! Nur er war älter geworden, älter und lebensmüder; und heute regnete es und sein Fuß streifte unaufhörlich die nassen gelben Blätter, die der Sturm der letzten Nacht herabgeworfen hatte. — Damals Sonnen schein und blauer Himmel, heute Sturm, Regen und Herbstweh. Und dennoch, er fühlte heute mehr als je das Glück, dies Kind zu besitzen, die einzige seines Namens, sein Kind, das Kind seiner Anna. Und die sollte ein Flissen heimführen? Nimmermehr! Gestern nachmittag war er aus dem ungemütlichen Treiben des Um zuges geflohen und in die Loge gegangen, wie er früher fast täglich gethan, und dort hatte ihn der Justizrat Nesemann auf die Seite genommen und ihm den Besuch dieses Menschen, des Lieutenants von Flissen, angekündigt. „Er hat den Befehl von seinem Bataillons-Kommandeur", hatte Nesemann gesagt, „du darfst ihn also nicht schlecht behandeln, denn wenn er dem Be fehle nicht nachkommt, wird er bestraft. Flissens Schuld ist es nicht, er hatte sich bereits vorgenommen, es aufs äußerste ankommen zu lassen, um dir nicht lästig zu werden, aber die angedrohte Versetzung wäre eine zu strenge Strafe, denn er ist mittellos und die Residenz ein teueres Pflaster." „Ja, hm —" hatte er dann erwidert. Er erinnerte sich jedes Wortes des Gespräches, und wie er hinzugefügt: „die Versetzung wäre ja ein Glück für alle, nnd wenn ich dazu beitragen kann - ." Aber weiter war er nicht gekommen, da hatte ihm sein ältester Freund beinah die Freundschaft ge kündigt und gesagt: „Ich habe dich für einen heißblütigen verbissenen Querkopf, aber bis jetzt noch nicht für einen unedlen Menschen gehalten: hüte dich, daß es nicht dahin kommt! Erfahre ich, daß du dem jungen, Mann in irgend einer Weise zu nahe trittst weaen dieses Kommandos, ode» j ihm schadest, so hast du meine Achtung verloren. Er kann nicht dafür, daß er den Namen ,Flissen' trägt." Damit war der Justizrat gegangen und hatte ihn stehen lassen, auch den ganzen Abend kein Wort mehr mit ihm ge sprochen. Und nun — konnte, durfte er den ältesten Freund, den einzigen, der stets seine Partei ergriffen, vor den Kopf stoßen um dieses Menschen halber? War denn alles auf dessen Seite, alles gegen ihn? Verdrießlich stieß er die welken Blätter mit dem Fuße vor sich her und eilte rascher dem Lindwurm zu. Hätte er gewußt, daß gestern abend noch der Justizrat sich zu dem Lieutenant begeben und ihn gesagt hatte, er möge nur ganz unbefangen sein Anliegen dem Herrn Stadtrat vortragen, dieser werde ihm keinerlei Ungelegenheit bereiten, er habe ihm ernstlich zugeredet, — wer weiß, ob nicht der Widerspruch rege geworden und die Mahnung des Justizrat vergeblich gewesen wäre. Aber er wußte es nicht, und außer dem hatte Nesemann dem jungen Offizier beim Weggehen noch gesagt: „Lieber Flissen, diese Mitteilung bleibt ganz unter uns, nicht wahr?" „Ja, unter uns!" hatte da eine leise Stimme hinter der Tapetenthür wiederholt. „Warte nur, mein Lieutenant ist mir zehnmal lieber, als dein alter Sünder. Ja, stille Wasser sind tief!" — Gewiß, Frau Witwe Grieben war eine kluge Dame, sie erfuhr und wußte alles, wenn es auch nicht immer mit rechten Dingen zuging. — Verstimmt, sogar sehr verstimmt betrat Herr Carstens heute sein Kontor, warf den triefenden Regenschirm in eine Ecke und begann die eingegangene Korrespondenz durchzusehen. Plötzlich stutzte er. „Meier!" rief er in den Flur, und als der Commis eilig erschien, fuhr er fort: „Da avisieren Scherr und Comp. in Trier acht Ohm Zeltinger. Bestellt haben wir den Wein Mitte September, das ist richtig, aber die Ordre ist zurückgezogen worden, ich hatte Ihnen den Auftrag dazu erteilt; lassen Sie das Korrespondenz journal sehen." Der Commis zuckte die Achseln. „Erinnere mich nicht, Herr Stadtrat; wahrscheinlich haben Sie selbst die Abbestellung gemacht; das Kopierbuch muß es zweifellos bestätigen." Aber weder im Journal noch im Kopierbuche fand sich etwas anderes als der Auftrag an Scherr und Comp., von Ab bestellung keine Spur. ,,S' ist gut", brummte der alte Herr auf die Bemerkung des Commis, der nur zu gern das Comptoir wieder verließ. „Acht Ohm! Soviel wird Ich liebe dich mehr als alles, Was meine Seele kennt, Mehr als die goldene Sonne Am ewigen Firmament, Mehr als des jungen Lenzes Duftendes Blütenkleid, Mehr als die süßen Träume Entschwundener Kinderzeit! Ich liebe dich mehr als alles, Was herrlich und was schön, Uns dennoch — es wäre besser, Wir hätten uns nie gesehn! Ich kann von dir nicht lassen lind wenn cs das Leben gilt, Kann nimmermehr vergessen Dein heißgeliebtes Bild! Und ob ein drohendes Wetter Mein Hoffen zu Boden schlägt, Ich liebe dich mehr als alles, Was Menschenbrust bewegt, Mehr als das heißeste Sehnen, Das Herz zum Herzen bannt, Und dennoch — es wäre besser, Zum Lindwurm. Roman von B. Renz. (Fortsetzung aus der Sonntags-Extrabeilage Nr. S.) Es war ein köstliches Plätzchen dort oben. Links im Thale die Stadt mit der altersgrauen Ringmauer und dem mächtigen Dome, dessen gotischer Turm so hoch emporragte über das Getreibe der Menschen; und rechts das Gebirge im bläulichen Duft der herbstlich reinen Atmosphäre, rings Dörfer und Weiler, und über dem Ganzen ein durchsichtig klarer Himmel. — Aber der Herbst mit seinen Stürmen, mit Reif und Schnee stand schon vor der Thür; wie bald werden die letzten Blumen verschwinden, wie bald die Bäume entblättert sein; wie bald würden auch ihre Hoffnungen,— sie wagte nicht es auszudenken. — — Wo war ihr jugendlicher Übermut geblieben? Was war überhaupt aus der Zuversicht geworden, mit der sie heimgekehrt in das elterliche Haus? Er, der Vater, hatte zwar in das Schicksal gewaltsam eingegriffen, — aber sie? Durfte sie einem solchen Gedanken Raum geben? Hatte ihr Vater nicht schon des Leids vollauf genossen, den Kelch bis auf die Neige geleert? Nein, sie durfte sein Elend nicht noch vermehren durch Trotz, oder gar Hätte sie ihn doch niemals gesehen! Und dennoch, war es nicht, als ob das unbegreifliche Walten einer höheren Macht den Zwiespalt zu lösen trachtete durch die Liebe der beiden jungen Menschen? Nein, sie konnte ihn nicht aufgeben, aber sie wollte demütig warten, ob derVater — Ja, der Vater, wenn er doch in ihr Herz sehen könnte! Ob es Schwereres giebt, als ein hoffnungsloses Lieben? Sie Preßte das Taschentuch gegen die Augen und stöhnte tief auf. Nein, ihr Entschluß stand fest: Warten, aber nicht entsagen! Ehre Vater und Mutter — — aber nicht entsagen, nimmermehr! — Das Zirpen eines kleinen Vogels über ihr ließ sie aufblicken, ein anderes Vögelchen gesellte sich zu ihm, und beide flogen selbander hinaus in die endlose Weite. — „Bewahre mich der Himmel vor solchen Gedanken!" flüsterte sie, „Nein, warten, demütig warten, aber nicht entsagen!" Von jenseits der Maner erklana eine frische Mänverst-miU^. Awe! Studenten hatten sich drüben unter eine mächtige Eiche gelagert, ein dritter stand vor ihnen; er hatte das Cereviskäppchen abgenommen und die Arme nach dem Städtchen ausstreckend, sang er keck in die Welt hinaus, sie konnte jedes Wort verstehen: Wir hätten uns nie gekannt; „Und dennoch, es wäre besser, wir hätten uns nie gekannt!" wiederholte sie und heiße Tropfen fielen auf das kleine Notizbuch, in welches sie bemüht