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Tarifvertrag etwas ganz anderes zu machen. Für sie ist der Tarifvertrag nicht jenes soziale Friedens instrument, als welches er immer wieder gepriesen wird, für sie ist er weiter nichts als ein Kampfes- mittel. Die Gewerkschafts- und Parteiblätter machen auch gar kein Hehl daraus So schrieb einmal die „Leipziger Volkszeitung“: „Zum Teufel mit den Tarifverträgen, wenn die, welche sie schließen, ihnen die bindende Kraft andichten, den hallenden Schritt des revolutionären Proletariats den bour geoisen Bedenken des »Vertragsbruches« zuliebe auch nur eine Minute aufzuhalten oder im gegebenen Momente unseren Protestruf gegen die bürgerliche Gesellschaft in einer energischen Demonstration unserer Rechte mit der Vogelscheuche des Kontrakt bruches zu ersticken.“ Und es dürfte noch in Er innerung sein, daß eber dasselbe sozialdemokratische Organ gelegentlich des schwedischen Generalstreiks den sozialdemokratischen Buchdruckern zurief, sie sollten sich durch die „Vogelscheuche des Kontrakt bruchs“ nicht abhalten lassen, Solidarität zu üben, d. h. sie sollten den Vertrag einfach brechen. Wenn die Staatsmänner der Sozialdemokratie im Verein mit der Generalkommission der Gewerkschaften, dem großen Generalstabe auf dem Gebiete der gewerkschaftlichen Kämpfe, es aus Gründen der sozialdemokratischen Staatsraison für nützlich er achten, dann werden sie auch nicht einen Augenblick zögern, den Tarifvertragsbruch gutzuheißen. Wenn den Unternehmern immer wieder zugerufen wird, der Tarifvertrag biete durch seine einheitlichen Löhne eine durchaus sichere Kalkulationsgrundlage und sei geeignet, die Schmutzkonkurrenz zu be seitigen, so ist darauf zu erwidern, daß die Gewerk schaften auch keinen Zweifel lassen, wie sie hierüber denken. Sie betrachten es als selbstverständlich, daß der Tarifvertrag nur für den Arbeitgeber eine Zwangsjacke ist, in Zeiten der besseren Marktlage sollen die tariflich festgelegten Löhne ganz selbst verständlich überschritten werden. So wird in der „Neuen Zeit“ in der Nummer vom 15. April 1910 in einem Aufsatz „Die Tarifverträge während der Krise“ geschrieben: „Daß die Tarifverträge die wirtschaftlichen Kämpfe vermindern und als ge werbliche Friedensdokumente anzusehen sind, wird jetzt in schlagender Weise dadurch widerlegt, daß durch die Verträge große Streiks und Aussperrungen fast zu regelmäßig wiederkehrenden Einrichtungen geworden sind und dabei einen immer größeren Umfang annehmen. Trotzdem werden die Verträge als Kampfesmittel der Gewerkschaften zu immer größerer Anwendung gelangen, um bessere und einheitliche Lohn- und Arbeitsbedingungen durchzu setzen und während der ungünstigen Geschäfts perioden zu erhalten.“ In einem anderen Organ der Sozialdemokratie, in der „Neuen Welt“, Nr. 44, wird geschrieben: „Der einzelne Arbeiter ist nicht an den Tariflohn in seinem Maximum gebunden, er kann einen höheren Lohn satz fordern, und wenn er ihn nicht bekommt, die Arbeit kündigen und seine Arbeitskraft günstiger zu verkaufen suchen, trotz Tarifvertrag. Dieser Vorgang ist völlig legal und von nicht zu unter schätzender Bedeutung. Der einzelne Arbeiter hat also zur Zeit der guten Konjunktur noch Gelegenheit, über die Tarifsätze hinaus seinen Lohn zu erhöhen, falls nicht andere Kräftekonstellationen dies un möglich machen.“ Wenn man es im gewöhnlichen gewerblichen Leben mit einem Gegner zu tun haben soll, der einen selbst für seinen stets zu bekämpfenden Feind hält und derartige Grundsätze über Treu und Glauben im Vertragsleben fordert, dann schließt man mit einem solchen Gegner überhaupt keine Verträge ab. Der Reichstag aber will die Industrie zwingen, Tarifverträge mit einem Gegner abzuschließen, der diese in der Hauptsache lediglich für den Arbeit geber als bindend betrachtet. Abgesehen von all diesen Gesichtspunkten kommt noch in Betracht, daß bestimmte Zweige der Groß industrie aus rein technischen Gründen sich noch nicht einmal theoretisch für die Ein- und Durch führung von Tarifverträgen eignen. Das wird in einzelnen Fällen selbst von den Arbeiterorganisationen zugegeben. In der „Metallarbeiter-Zeitung“,* dem Organ der sozialdemokratischen Metallarbeiterge werkschaft, wird in einem Artikel „Tarifverträge in der Elektrotechnik und im Maschinenbau“ aus geführt, daß sich für die Elektrotechnik und für den Maschinenbau einheitliche Akkordpositionen, wie sie durch einen Tarifvertrag bedingt würden, nicht aufstellen lassen. So heißt es hier: „Wollte man an die Arbeit gehen, für alle hier vorkommemden Akkordarbeiten die Akkordpositionen festzulegen, so würde ein solcher Entwurf (eines Tarifvertrages) nicht nur einen ungeheuren Umfang annehmen, sondern die technische Durchführung einfach eine Unmöglichkeit werden. Wir stoßen selbst bei Fabri kation für den gleichen Verwendungszweck und die gleiche Leistungsfähigkeit in jeder Fabrik auf eine andere Ausführung. In der Elektrotechnik hat man, um der Anarchie auf dem Gebiete der Produktion entgegenzuarbeiten, Normalien ausgearbeitet, ein heitliche Konstruktionsvorschriften, die unter dem Namen Sicherheitsvorschriften und Normalien des Verbandes Deutscher Elektrotechniker in der Technik bekannt sind. Trotzdem bleibt noch eine große Verschiedenheit der Ausführungen bestehen; es liegt ja gerade im Wesen des Konkurrenzkampfes, immer neue konstruktive Aenderungen auf den Markt zu bringen.“ Der Artikel schließt mit dem Ergebnis: „Wir sehen also, daß sich brauchbare Akkord positionen nicht einheitlich regeln lassen, sondern von Fall zu Fall abgeschwächt werden müssen; ein sachgemäßes Kalkulieren ist überhaupt ein Schätzen. Der Kalkulator, der den Auftrag hat, über eine Arbeit mit allen Einzelheiten eine Kalkulation auf zustellen, wird die Preise machen, indem er die neue * Jahrg. 1908, Nr. 19.