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16. März 1910. Chemische und metallurgische Mitteilungen. Stahl und Eisen. 465 fungswesen zu geben. Zu diesem Zwecke wurde von der Gründung eines neuen Vereines abgesehen, vielmehr ist jeder zu den Versammlungen eingeladen, der sieh für das Gebiet der Materialkunde und des Prüfungswesens interessiert. Inder am 16. Dezember 1909 in Zürich abgehaltenen zweiten Versammlung hielt Hr. B. Zschokke, Adjunkt der eidg. Materialprüfungs anstalt, übei' das oben genannte Thema einen sehr inter essanten Vortrag,* dem wir folgendes entnehmen: Die durch thermische Behandlung hervorgerufenen Aggregatzustands-bezw. Gefügeänderungen im schmied baren Eisen spielen sich bekanntlich alle oberhalb einer Temperatur ab, die unabhängig vom Kohlen stoffgehalte der betreffenden Eisensorte bei etwa 700° C liegt. Unterhalb dieser Temperatur von 700° herrscht der stabile Gleichgewichtszustand, d. h. es finden sowohl bei langsamer als auch plötzlicher Abkühlung keine auf molekularen Vorgängen beruhende Gefüge änderungen mehr statt. Eingehende Versuche des Vortragenden haben nun gezeigt, daß unter bestimmten Voraussetzungen auch unterhalb der Temperatur von 700° in bestimmten Eisensorten sich Aenderungen vollziehen können, die zwar nicht die Mikrostruktur, wohl aber die Makrostruktur des Metalles betreffen. Erhitzt man nämlich ein Stück sehr weiches Fluß eisen, das vorher blank poliert worden ist, auf etwa 300° C, d. h. bis zur kornblumenblauen An lauffarbe, und schreckt es dann in Wasser von gewöhnlicher Tempera tur ab, so erscheint auf der polierten blauen Fläche ein vom bloßen Auge deutlich wahr nehmbares Netz von Li nien, die auf den ersten Abbildung 1. Abschreckliuien Blick wie feine Haar- auf welchem Flußeisen: Abschreck- risse aussehen. Die temperatur 250 bis 260 »C. mikroskopische Unter suchung der Erscheinung zeigt aber, daß es sich keineswegs um Risse, sondern lediglich um eine Fältelung der Metalloberfläche handelt, die im Querschnitt ein wellen- oder säge artiges Aussehen zeigt, d. h. die Kämme der Wellung fallen nach einer Seite sehr steil, nach der anderen Seite sehr Hach ab. Man kann dies namentlich dadurch sehr deutlich nachweisen, daß man die angelassene und dann abgeschreckte Probe mit einem sehr feinen Schmirgelpapier (6/0) leicht poliert; die Kämme der Wellen werden weiß, die Vertiefungen bleiben blau (vgl. Abbildung 1). Zunächst wurde eine größere Reihe von Versuchen vorgenommen, um die näheren Umstände zu erforschen, unter denen die Linien entstehen; in zweiter Linie wurden dann Versuche angestellt, um festzustellen, ob und wie durch die Abschrecklinien die Festigkeitseigen schaften des betreffenden Metalles beeinflußt werden. Zu der ersten Versuchsreihe wurden Plättchen aus Flacheisen von den Abmessungen 40 X 40X7 mm •verwendet. Die Festigkeitseigenschaften dieses Ma ¬ terials waren: kg/qmm % Streckgrenze . . 29,0 Kontraktion . . 68,0 Zugfestigkeit . . 35,4 Dehnung . . . 29,2 Die chemische Zusammensetzung war: % % Kohlenstoff . . 0,043 Schwefel . . . 0,015 Silizium . . . 0,006 Phosphor . . . 0,035 Mangan . 0,273 * „Sitzung der schweizerischen Mitglieder des Internationalen Verbandes für die Materialprüfungen der Technik“ 1909, Heft 2, S. 24/31. Die Erhitzung der Plättchen geschah in einem Bade feinstgesiebter Eisenfeilspäne ; die Temperatur messung erfolgte mittels eines Stabthermometers, dessen Quecksilbersäule Messungen bis 550° C gestattete. Für die Temperaturen über 300 °C wurden die Plättchen auf galvanischem Wege mit einem sehr dünnen, gegen Oxydation weniger empfindlichen Messing- oder Silber überzug versehen, der den Veränderungen der Ober fläche gut folgt. Wird diese Maßregel nicht befolgt, so überzieht sich die Oberfläche des Eisens bei höheren Temperaturen mit einer spröden Haut von Eisen- oxyduloxyd, die die Linienbildung beeinträchtigt. Die Ergebnisse der Abschreckversuche lassen eich wie folgt zusammenfassen: 1. Das Netz der Abschrecklinien beginnt zu erschei nen, wenn die Abschreckung von Temperaturen von 220 bis 230° C an vorgenommen wird. 2. Die Zahl und das Relief der Linien nimmt mit steigender Temperatur zu, bis zu der Höchst temperatur von 290 bis 300° C. 3. Von der Abschrecktemperatur von 330°C annehmen die Linien an Zahl und Deutlichkeit rasch ab, und bei 400 bis 500° C sind sie kaum mehr wahr zunehmen. 4. Ein vorheriges längeres Ausglühen der Eisen plättchen bei 900 0 C hat keinerlei Einfluß auf das Erscheinen der Abschrecklinien, wenn die Plättchen nachher auf Temperaturen von 230 bis 320° C erhitzt und abgeschreckt werden. 5. Die Abschrecklinien treten nicht oder nur schwach auf, wenn die Erhitzung statt in Eisen feilspänen im Blei- oder Paraffinölbade vorge nommen wird. 6. Bei wiederholten Versuchen an dem gleichen Stück (20 mal) vermehren sich die Linien bestän dig, ohne daß aber die zuerst aufgetretenen eine weitere Veränderung erleiden. 7. Unter sonst gleichen Verhältnissen treten die Linien bei dickeren Metallstücken stärker auf als bei dünnen. 8. Die Linien treten bei den verschiedenen Sorten von Flußeisen (Martin- und Thomasflußeisen) und bei den verschiedensten Formen (Flacheisen, Bleche, Vierkanteisen) in gleicher Weise auf, nicht aber bei Schweißeisen, Schienenstahl, Werkzeug stahl und Gußeisen. Die Abschrecklinien sind also nur eine den weichen Flußeisensorten eigentümliche Erscheinung, d. h. den Eisensorten mit reiner Ferritstruktur und niedriger Streckgrenze. Aus Punkt 4 geht auch deutlich her vor, daß die Linien nicht von inneren Spannungen im Eisen herrühren, wie sie etwa durch zu kaltes Walzen entstehen können. Besonders bemerkenswert ist, daß sie am stärksten bei der sogenannten „Blaubruch- temperatur“ auftreten, also bei dem Abschrecken aus jener Temperaturzone, die für die Bearbeitung des Flußeisens allgemein als eine kritische betrachtet wird, da in dieser Temperatur das Material bei dem Ver arbeiten Sprödigkeitserscheinungen aufweist. Um zu untersuchen, ob und in welcher Richtung sich durch die Abschrecklinien die mechanischen Eigenschaften von Flußeisen ändern, wurden, stets unter Verwendung des gleichen Versuchsmateriales, Schlagbiegeproben ausgeführt, und zwar an Stäbchen: 1. aus dem Material im Anlieferungszustande; 2. aus einem Stück, das 20 mal auf 300° C erhitzt und dann in Wasser von 10° C abgeschreckt wor den war; 3. aus einem Zerreißstab, der im Anlieferungszu- stände bis zur Streckgrenze beansprucht worden war; die Stäbchen wurden an den Stellen heraus- XI.3O 59