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Beilage zum Frankenberger Tageblatt unb Bezickauzetger. ««antwvrtltcher «cdattrur: «rnft «oßierg ln Krankend«», t. Sa. — Druck und «erlag von «. ». «aßdrr, in Krankendrrg t. S. Son»«ve»v se« L3. November IÄ-A Bom Landtag. Erste Kammer. Die Erste Kammer hielt Donnerstag vormittag V«12 Uhr ihre zweite öffentliche Präliminarsitzung ab. Der Präsident teilte mit, daß soeben die Präsidenten beider Kammern dem König den in der Verfassung vorgeschriebenen Eid abgelegt hätten. Es er folgte hierauf durch den Präsidenten die Eldesabnahme der neuen, bezw. wieder in die Kammer eingetretenen Mitglieder, Kom merzienrats Remecker-Chemnitz und Wirkt. Geh. Rats Dr- Mehnert- Medingen, die den Eid durch Handschlag in die Hand des Präsi denten erneuerten, während die neu eingetretenen Mitglieder Ober- studienrat Dr. Peter-Meißen und Graf Castell zu Castell die Eidesformel nachsprachen. Hierauf folgte die Wahl des Vize präsidenten und der Sekretäre. Durch Akklamation wählte man die Herren Oberbürgermeister Dr. Beutler-Dresden zum Vize präsidenten und Oberbürgermeister Dr. Käubler-Bautzen, sowie Grasen zur Lippe zu Sekretären wieder. Die nächste Sitzung findet heute, Freitag, statt. * * * Zweite Kammer. Die Zweite Kammer hielt Donnerstag vormittag '/,12 Uhr ihre dritte öffentliche Präliminarsitzung ab. Aus der Tagesordnung stand als einziger Punkt die Verpflichtung der neu und der wieder eingetretenen Kammermitglteder, sowie die Konstituierung der Kammer. Aus Grund von 8 82 der Verfassung bekräftigten die bereits früher als Abgeordnete der Kammer angehörenden Abge ordneten den Eid durch Handschlag in die Hand des Präsidenten, während die neu eingetretenen Mitglieder die Eidesformel durch die Worte: „Ich schwöre es, so wahr mir Gott helfe!" bestätigten. Der Präsident erklärte hieraus die Kammer für konstituiert und beraumte die nächste Sitzung auf Freitag vormittag V,10 Uhr an. Tagesordnung: Wahl der Deputationen. * « Der Etat aus die Jahre 1910/11 schließt in Einnahme und Ausgabe mit der Summe von 367,331986 Mark jährlich ab. Einer Erhöhung der Steuern bedarf es nicht. Drei Momente sind cs, die hauptsächlich den neuen Etat beeinflussen mußten: die voraussichtlich etwas niedriger anzusetzenden Einnahmen aus dem Eisenbahnetat (Kap. 16), die erhöhten Anforderungen des Reiches an die Finanzen der Einzelstaaten, also somit auch des Königreichs Sachsen, und die gesteigerten persönlichen Ausgaben, die eine Folge der vom vorigen Landtag bewilligten Besoldungs- und Penstons- erböhungen für die Beamten, die übrigen Staatsbedtensteten, die Lehrer, Geistlichen, sowie ihre Witwen und Waisen sind. Dieser Einfluß zeigt sich im Etat denn auch bet einer sehr großen Anzahl von Kapiteln. * * Die Fraktion der Freisinnigen Volkspartei im sächsischen Landtag hat sich konstituiert. Zum Vorsitzenden wurde Abgeord neter Günther gewählt, zu dessen Stellvertreter Abg. Bär, zum Schriftführer Abg. Dr. Dietel und zu dessen Stellvertreter Abg. Prof. Koch, der zur Freisinnigen Verewigung gehört, sich aber der Fraktion der Freisinnigen Volkspartei angcschlossen hat. Die Konservativen werden voraussichtlich den Abg. Opitz, die Nationalliberalen den Abg. Hettner zu Fraktionsführern wählen. * * * Die freisinnigen Abgeordneten haben bereits zwei An träge in der Zweiten Kammer eingebracht. Der erste Antrag lautet: „Die Kammer wolle beschließen, 1. in das sächsische Berg gesetz die Bestimmung aufzunehmen, wonach von der Belegschaft im geheimen und direkten Wahloerfahren gewählte Vertrauens männer die Revierbeamtcn bet der Kontrolle der Betriebsverhält nisse des Bergwerkes zu unterstützen haben; 2. auf reichsgesetzliche Regelung des Bergbauwesens hinzuwirken." — Der zweite Antrag lautet: „Die Kammer wolle beschließen, die Staatsregterung zu ersuchen, dem gegenwärtigen Landtag einen Gesetzentwurf vor zulegen, durch den für alle Staatsbetriebe die Einrichtung von Beamten- und Arbeiterausschüssen vorgeschrieben wird." Die Gutlastvug der Schulgemeinde«. Der in der Thronrede angekündlgte Entwurf eines Gesetzes ! zur Abänderung des Gesetzes vom 3. Juli 1902, die direkten ! Steuern betreffend, ist dem Landtag als Dekret 9 bereits zugeganaen. Danach wird den Schulgemeinden an Stelle des ihnen bisher über wiesenen Anteils an der Grundsteuer eine jährliche Staats beihilfe von 2,558000 Mk. gewährt, die aus die einzelnen Schul gemeinden folgendermaßen verteilt werden: Jede Schulgemeinde erhält vom Jahre 1910 ab alljährlich für jedes Schulkind eine Staatsbeihilte von 2,50 Mk., mindestens aber den Betrag von 3M Mark. Maßgebend ist ledesmal die Zahl der Schulkinder, ! die anr 31. Mai des vorhergehenden Jahres die öffentliche Volks schule, ausschließlich der Fortbildungsschule, besucht haben. Soweit die neu zu gewährenden Beihilfen den Betrag von 2,558000 Mk. nicht erschöpfen, wird der j-desmaltge Ueberschuß an die Schul gemeinden verteilt, denen im Jahre 1909 auf Grund des Gesetzes vom 3. Juli 1902 ein größerer Betrag überwiesen worden ist, ! als sie nach dem neuen Gesetz erhalten würden, und zwar nach i Verhältnis des Ausfalles, den jede dieser Gemeinden an dem ihr s im Jahre 1909 überwiesenen Betrage alljährlich erleidet. Das > Gesetz soll am 1. Januar 1910 in Kraft treten. Lagergercdlrdtr. Deutsche» Reich. — Die sächsische Erste Ständekammer hat noch ein neues Mitglied erhalten, und zwar den Regierungs amtmann bei der Amtshauptmannschast Dresden-N., Gra fen Friedrich zu Castell-Castell, den Schwiegersohn des verstorbenen StaatSministers Grafen Hohenthal, der auf Grund der Versassungsurkunde als Bevollmächtigter der Solms-Wildenfelsschen Rezeßherrschaften in die Kammer ein- getreten ist. — Eine neue sächsische Staatsanleihe in Sicht! Wie aus dem soeben herausgegebenen Staaishaushaltsetat für 1910/11 hervorgeht, beabsichtigt die Regierung die noch unbegebene Rentenanleche aus Grund des Gesetzes vom 4. Juli 1902 nicht weiter in Betracht zu ziehen, sondern eine andere höher verzinsliche Anleihe zu begeben. Die Anleihe soll 150 Millionen Mark betragen und mit 30 Millionen Mark am 31. Dezember 19l0, mit 60 Millionen Mark am 30. Juni 1911 und mit 60 Millionen Mark am 31. De zember 1911 aufgelegt werden. Für die vierprozentige Ver zinsung dieser Anleihe ist ein Anteil von 1'/» Millionen Mark bereits in den neuen Etat eingestellt worden. — In Kreisen, die als gut unterrichtet gelten, wird der Rücktritt des Herrn von Tirpitzals wahrscheinlich erzählt. Auch über seinen Nachfolger wurden bereits ziemlich bestimmte Angaben gemacht. Es soll an erster Stelle der Vizeadmiral Cardelle in Frage kommen, der bereits seit Jahr und Tag im Netchsmarineamt großen Einfluß besitzt. — Dec Nachtragsetat von 542 Millionen für das Jahr 1909 ist eine harte Nuß, darüber ist kein Wort zu verlieren; aber er enthält weder eine besondere Ueber- raschung, noch ist zu befürchten, daß Nachforderungen zvon ähnlicher Höhe in absehbarer Zeit wiederkehren könnten. stärkerer Beunruhigung liegt also tatsächlich kein Anlaß vor. — Das österreichisch-ungarische Thronfolger paar in Berlin. Es ist in diesem Jahre das fünfte Mal, daß der Kaiser mit dem österreichischen Thronfolger, dem Erzherzog Franz Ferdinand, zusammentrifft. Der Besuch in Berlin hat insofern besondere Bedeutung, als der Erzherzog von seiner Gemahlin, der Herzogin Hohenberg, ehemaligen Gräfin Chotek, begleitet ist; die Herzogin wird während der Dauer des Besuche« der Gast der Kaiserin sein, während der Kaiser sich mit dem Erzherzog am heutigen Freitag zu den bevorstehenden Hofjagden in der Letzlinger Heide begibt. Vor der Ankunft des österreichischen Thronfolgerpaares hatte der Kaiser dem Reichskanzler v. Bethmann-Hollweg einen Besuch gemacht und bei diesem einen längeren Vortrag gehört. Zum Empfang der mittags auf dem Anhalter Bahnhof eintreffen- den Gäste waren außer dem Kaiser erschienen die Prinzessin Eitel Friedrich, Reichskanzler v. Bethmann-Hollweg, Staats, sekretär v. Schoen, Botschafter v. Szügynny-Manch und die Herren der Botschaft. Nach dem Empfang, der einen sehr herzlichen Verlauf nahm, begaben sich die Herrschaften im Automobil nach dem Neuen Palais bei Potsdam, wo ein Frühstück im Familienkreis eingenommen wurde. — Die Abwanderung aus dem ManSfelder Streikrevier — bis jetzt haben sich etwa 1400 Bergleute, meist jüngere Leute natürlich, zur Abwanderung gemeldet — ist eine recht betrübende Erscheinung. Mansfeld hatte einen Ruf durch seine alteingesessene Knappschaft, die sich noch L- zahlreiche Standesgebräuche erhalten hatte. Die alten Ver hältnisse werden ein Ende nehmen, wenn jetzt fremde Elemente in das Mansfelder Revier eindringen. — Die rebellischen „Hofgänger" inSchwaben. Spät, aber endlich doch wehren sich die schwäbischen „Ge nossen" gegen die Art, wie der Leipziger Parteitag ihre „Hof gängerei" erledigte. Auf der jetzt abgehaltenen Landesver sammlung der württembergischen Sozialdemokraten ist in Stuttgart eine Erklärung der sozialdemokratischen Landtags fraktion abgegeben worden, welche direkt dem Leipziger Parteitag das Recht abspricht, sich in diese Landes angelegenheit zu mischen. Die württembergische Landtags fraktion gibt nämlich dem Bedauern Ausdruck, „daß Angele genheiten, die zur Landes Politik gehören, nicht den würt tembergischen Instanzen unterbreitet worden sind, sondern daß die Entscheidung von Instanzen außerhalb deS Lan des angerufen wurde; sie ist weiter der Ansicht, daß dadurch die Stellung der Parteigenossen im Lande außerordentlich er schwert und daß die Festigkeit der Fraktion gegenüber der Regierung in nachteiliger Weise beeinflußt wird. Ferner ist sie der Meinung, daß die ganze Sache außerordentlich über trieben wurde und daß manches Unliebsame hätte vermieden werden können, wenn den Fraktionsmitgliedern das Maß von Vertrauen entgegengebracht worden wäre, auf das sie nach ihrer ganzen Tätigkeit Anspruch erheben zu dürfen glauben ; denn wir wollen als Vertrauensmänner der Partei nicht nur bezeichnet, sondern auch behandelt werden, und wir werden uns jedem Versuch, uns auf die Stufe von „Werkzeugen" herabzudrücken, entschieden widersetzen!" — Dieser Männer mut vor den Berliner Parteigewaltigen hätte sich etwas früher an den Tag wagen müssen, wenn er imponieren sollte. Z e st e r r s t ch - II « K K r N. A — Das Kriegsministerium hat für das Jahr 1910 mehrere Truppenverschiebungen angeordnet, die als Nachwirkung der Annexionskrisis betrachtet werden H Auk clem keimerkof. Novelle von Fritz Gantzer. 11. gorgerun,. ^aqornn srrooliL.! Und die Ncimerhofbäuerin vernahm: „Ich weiß nicht, was ich Ihnen zuerst sagen soll, Frau Reimer. Ich glaube, es muß ein heißer Dank sein. Zum zweiten Male haben Sie mir Ihr Haus geöffnet. Diesmal einer, die am Verzweifeln und Verhungern war. Und ich weiß nicht, wie ich Ihnen danken soll . . . Wie M das alles kam ? Ja, wie war es doch! Mein Kopf ist wirr W und wüst. Er läßt ein klares Denken kaum noch zu . . . Aber so war es wohl: Ich kam auf den Lindenhof zu meinen Verwandten. Damals an jenem Regentage. Ich wußte sofort, was ich schon unterwegs geahnt: Gut wirst du's hier nicht haben. Ich fand kaum ein freundliches Mi Auge. Nur der Jüngsten Gesicht lächelte mich an. Und der verbot man's barsch. Ich wollte arbeiten. Gewiß. Und ich hab's mit red lichem Willen getan, so gut ich gekonnt. Aber ich machte es weder dem Bauer recht, noch der Bäuerin. Am aller wenigsten der Aeltesten. Sie ließ mir keine ruhige Viertel stunde, und ihr höhnisches Reden nahm kein Ende. „Ja, auf dem Reimerhof bist hier freilich nicht," hieß es. „Da hätt'st wohl bleiben mögen? Gelt? Da wärst gepflegt worden wie eine Prinzessin. Aber hier ist kein Reimerhof. Hier bist Magd. Und hier sollst du's bleiben." Ich hab's nicht hören gewollt und bin still meiner Ar- beit nachgegangen. Aber all mein Sinnen und Denken war immerfort mit Sehnsucht hier. Und ich hab' heimlich M oft geweint. ff Dann fing die Katharin' anders an. Sie erging sich in Schmähmorten über den Hansjakob und nannte ihn einen ehrlosen Lump. Da bin ich aufgefahren und hab' ihr's verboten, so zu reden. Sie hat höhnisch gelacht und es abermals gesagt. Ich bin maßlos zornig geworden, und wiederum hab' ich gefordert: „Laß das!" Sie hat nicht geschwiegen. Da bin ich-dicht vor sie hin- getreten und hab' gesagt: „So du noch ein einzig schlechtes Wort über den Hansjakob sprichst, lauf' ich aus eurem Dienst. Er ist besser als ihr alle zusammen." Da hct sie das Gesicht in Wut verzerrt, zu einer Peitsche g-), l^n, die gerade neben ihr gestanden, und mich, ehe ist zc.rück- springen konnte, geschlagen. Sehen Sie, Frau Reimer, dies Mal hat sie mir gezeichnet." Stöhnend schwieg Katharina. Die aufs neue mächtig in ihr lebendig werdende Erinnerung an die zugefügte — Schmach verhinderte sie minutenlang am Weiterreden. Die Reimerhofbäuerin saß mit tiefgesenktem Kopf und kand kein Wort. Es war ihr, als wenn ein leises Gefühl der Beschämung in ihr aussteige. Aber ehe es ihr recht zum Bewußtsein kam, redete Katharina schon weiter. „Ich will's kurz machen: Ich blieb nicht länger. Wie ich ging und stand, lief ich davon, voller Scham und Grimm und voller Sehnsucht nach einem freundlichen Menschengesicht. Ich wollte zu Ihnen. Es trieb mich, als wüßte ich in diesem Hause treue Mutteraugen und streichelnde, liebkosende Mutterhände, die alles hinwegwischen und gut machen, was die böse Welt da draußen getan. Aber ich wagte es nicht. Ich fürchtete mich. Vor mir selber. Denn ich hätte wohl, wäre ich sofort gekommen, gefleht: Laßt mich nicht wieder fort. Denn ich fühle, daß bei euch meine Heimat ist. Und so durfte ich nicht reden. Da lief ich und lief. Ich lief in die Irre. Ich fand mich nicht wieder zu recht und mußte mich endlich in einem weiten, düsteren Walde zum Ausruhen niederlegen. O, jene grausige, ent setzliche Nacht! Der Sturm schnob durch die Bäume, kein Stern sandte einen tröstenden Schimmer, und ich fürchtete mich. Und auch die nächste Nacht fand mich unter freiem Himmel. Ich hatte mich am folgenden Mittag zwar zu einem Dorfe hingefunden und war von Haus zu Haus gegangen, um nach einem Dienst zu fragen, war aber überall mit verwunderten oder spöttischen Blicken abgewiesen worden. Um ein Stück Brot zu betteln, hatte ich mich geschämt. Und ohne Bitte gab mir niemand. Wieder lief ich und lief und kam endlich in die Nähe dieses Dorfes. Stundenlang hockte ich verzweifelt in einer dichten Schonung, hart am Wege, und wagte es nicht, weiterzugehen. End lich trieb mich ein rasender Hunger. Ich mußte einen Bissen Brot haben. Zu bitten traute ich mich nur vor dieser Tür. Und in der Dämmerung schlich ich mich dann herzu. Ich wußte, daß Sie mich nicht von der Schwelle weisen würden." „Nein, Kind," unterbrach die Ncimerhofbäuerin, „denn das wäre eine Sünde gewesen. Und nun laß dein Reden. Iß erst. Du hast bisher nur ein Stück trockenes Brot ge nommen und die Milch getrunken." „Ich bin gesättigt. Mehr möchte ich nicht," lehnte sie dankend ab. „Aber darf ich noch um etwas anderes bitten?" Die alte Frau nickte. „Gewiß!" „Ich fürchte mich vor einer neuen Nacht im Freien. Lassen Sie mich bis zum Morgen auf dem Hofe, Frau Reimer. Wenn ich auf einem Bündel Stroh in der Scheune schlafen dürfte?" „Du bist wunderlich, Kind. Habe ich nicht einst ein Bett für dich gehabt? Meinst du, ich sei anders geworden seitdem? Gewiß bleibst du. Das ist ganz natürlich. Möchtest du gleich schlafen gehen ?" Katharina bejahte mit dankerstickter Stimme. Da leuchtete ihr die Reimerhofbäuerin in die Kammer, die sie schon einmal ausgenommen, lieh ihr beim Ent kleiden hilfreiche Hand und hatte ein freundliches, gütiges Lächeln, als sie den Naum verließ. Katharina sah es nur noch wie im Traume. Die ungeheure Erschöpfung ließ sie sofort in einen tiefen Schlaf sinken Auf dem Hofe war längst alles still. Knechte und Mägde hatten sich zur Ruhe begeben. Nur die alte Bäuerin saß noch wachend und wartete mit sich steigernder Unruhe auf die Heimkehr des Sohnes. Die, derentwegen er unterwegs war, schlief bereits seit Stunden unter seinem Dache. Und er kam nicht. Und wenn er nun endlich kommen würde? Die wunderlichsten Pläne waren der Reimerhofbäuerin während der Stille der Nacht und im Laufe der träge schleichenden Stunden durch den Kopf gegangen. Sie wollte ihm nicht sagen, daß der Abend Katharina gebracht. Das Mädchen würde weit in den Tag hinein schlafen. Und wenn Hansjakob dann nicht auf dem Hofe anwesend sein würde, wollte sie den unerwarteten Gast fortfchicken. Freilich nicht mit leeren Händen. Sie hatte an hundert Taler ge dacht und mehr. Damit kam sie ein Stück, bis sie einen Dienst fand. Aber wenn er später durch einen Zufall erfuhr, daß sie hier gewesen? Wenn er schließlich heute abend noch oder morgen früh in die Kammer ging? Diese Möglichkeit konnte verhindert werden. Man brauchte nur zuzuschließen und den Schlüssel abzuziehen. Sic erhob sich, um dies zu tun. Behutsam leuchtete sie vorher noch einmal in die Kammer hinein. Katharina schlief ganz fest. Sie würde durch das Ge räusch, das beim Herumdrehen des Schlüssels nicht zu vermeiden mar, nicht geweckt werden. Sekundenlang stand die alte Frau lauschend und horchte auf die gleichmäßigen, tiefen Atemzüge. Sie sah das bleiche Gesicht in den Kissen und bemerkte in allem Weiß quer über Stirn und Wange weg den blutunterlaufenen Striemen wie eine grelle, scharfe Linie. Sie zitterte wie eine Anklage zu ihr herüber, machte sie plötzlich so weich, daß sie ganz in das Gemach trat, die Lampe auf den Fußboden stellte und sich behutsam über die Schlafende beugte. Da fiel es ihr heiß auf die Seele: Deines Sohnes wegen hat ihr die Roheit das Gesicht entstellt. So grau sam entstellt, wenn auch nur für Wochen. Und du hast ihr das noch nicht gedankt. Ja, du hast nicht einmal ein kühlendes Tuch auf das brennende Schandmal gelegt. Da schämte sie sich. Und in der heißen Aufwallung dieser Scham strich sie der Schlafenden leise über das wirre Haar und fand sich mit ihrer Hand bis zu der heißen Stirn hin. Sekundenlang ruhte sie auf ihr. Unbewußt empfand die Schlafende die Berührung, und ihre Lippen flüsterten traumhaft ein einziges Wort: „Mutter!" (Schluß folgt)