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kretLr Günther vom 1. Oktober d. I. ab an das Land, geeicht Dresden verhetzt. Den beliebten Beamten, der sich auch io der Bürgerschaft allseitig der vollsten Sympathie er. freut, fleht man ungern aus dem Orte seiner langjährigen Berufstätigkeit scheiden. — Herr« Aktuar Werner beim hiesigen Amtsgerichte werden vom 1. Oktober ab an Stelle der GerichtLschreibergeschäftr in Strafsachen di« jetzt Herrn Sekretär Günther obliegenden Geschäfte des Gerichtsschreibers für streitige Zivilsachen übertragen. — Anläßlich der Ver setzung de» Herrn Sekretär Günther wird dem hiesigen Amts, gericht der Aktuar bei dem Amtsgericht Annaberg, Herr Emst Paul Müller, vom l. Oktober 1909 an als Ge- richtSschreiber für Strafsachen zugewiesm. 's* Hausadund. Auf die morgen, Donnerstag, abend im Saisersaal stattfindende öffentliche Versammlung sei auch hier nochmals besonder« hingewiesen. -f* Der Zirku» Strutzburger hat auch gestern abend mit neuem Programm bewiesen, daß er in jeder Beziehung leistungsfähig ist. Eine tadellose und meisterhafte Dressur zeigt Herr Regisseur Koßmeyer, der in der Vorführung von Freiheitsdreffuren, al- Jockey und in der hohen Schule Vor treffliches leistet. Auch Herr Alexander führt mit einer schönen schwarzen Stute verschiedene Gangarten in der hohen Schule elegant und sicher vor. Des weiteren beanspruchen dir Vorführungen von Herm und Frau Direktor Straß burger, dir Reitkünste von Frl. Klark (ungar. Pusta-Ritt), Frl. Annita (als Fortuna unter der Maske), Frl. Ida (Voltige nach Richard) und Herr Leonhardt (Jockey) wie auch der Bär als Kunstreiter hohes Interesse. Große Heiter keit erweckt allabendlich das Amateurreiten, besonders wenn einem, der sich nach Kräften abmüht, dir Prämie von 50 M. zu erringen, etwas Unangenehmes passiert. Von hervor ragenden Nummern seien noch genannt: Eine Szene aus Wild-West, Frl. Harrys als elastisches Wunder, Herr Mari, nello als Matrose am Mast, und die kleine Gusti als Draht seilkünstlerin. Erheblich über dem Durchschnitt stehen auch die Clowns, die recht amüsant sind, besonders Herr Tony mit seiner Parodie auf die hohe Schule. — Heute, Mitt woch, abend wird auch das Wunder-Bettpferd ,^voä ni^bt" vorgeführt. Darauf sei hier besonders aufmerksam gemacht. * " — Hsiuiche«. Prinz Eitel Friedrich von Preu ßen berührte vorigen Monat mit dem Generalstab auf einer Manöverinspektionsreise unsere Stadt und begab sich dann von hier aus nach den sogenannten Schneiderhäusern. Hier nahm er in leutseligster Weise von der Wirtschafts besitzerin Finsterbusch eine Erfrischung, bestehend in Beeren und Milch, entgegm und sandte aus Dankbarkeit dafür vor kurzem sein Bild mit der eigenhändigen Unterschrift „Eitel Friedrich 1909, Prinz von Preußen". — H«i«ichea. Bei dem Artillerie-Scharfschießen der Regimenter der 4. Feldartillerie-Brigade Nr. 40 in dem Gelände zwischen dem „Grünen Haus" und dem Nonnen walde habm sich bedauerlicherweise zwei Unfälle ereignet, von denen einer ein Menschenleben forderte. Beim Einrücken in die Feuerstellung gerieten durch Stürzen der Pferde ein Fahrer des 32. und ein Fahrer des 68. Regiments unter die Geschütze, welche über sie hinweggingen. Ersterer wurde sehr chwer, der andere leichter verletzt. Beide fanden einstweilen n einem Gute Unterkommen und wurden dann in das Garni- onlazarett nach Döbeln übergeführt. Der Fahrer des 32. Regiments (Garnison Riesa) ist seinen Verletzungen leider erlegen. — Lhemuitz. Der König Friedrich August hat Herrn Theaterdirektor Jesse in Anerkennung seiner Verdienste um daS Chemnitzer Theaterwesen das Ritterkreuz I. Klaffe vom AlbrechtSorden verliehen. — Der König hat bestimmt, daß das 15. Infanterie.Regiment Nr. 181 al« seinen StiftungStag den 1. April 1887 — den SttftungStag des vormaligen 3. Jäger-BataillonS Nr. 15 — anzusehen hat. — Chemnitz. Am Sonntag fand hier im Kaufmännischen BereinShaus das 1. JahreSfest der sächsischen Sängervereinigung statt. Die sächsische Sängervereinigung ist eine der 9 Kreis- vereinigungen des evangelischen Sängerbundes, der in 300 christlichen Gesangvereinen ungefähr 9000 Mitglieder zählt. DaS Programm des ersten JahreSfesteS bestand aus Posaunen- chören, gemeinsamen Gesängen, Vorträgen der vereinigten gemischten Chöre von ungefähr 350 Sängerinnen und Sängern, sowie aus Solovorträgen für Tenor und Bariton. — Ehren- gauturnwart Richard Grüner-Chemnitz ist an einem starken Influenza-Anfall nach kurzem Kranksein gestorben. Seit dem Jahre 1880 lag in seinen Händen die oberste turnerische Leitung des 21. TurngaueS „Chemnitzer Umgebung". — Meitze«. Der Chef des Generalstabes der Armee, Exzellenz von Moltke, traf gestern 10 Uhr 41 Min. vor mittags, von Berlin kommend, in Riesa ein. Er besichtigte zunächst die Feldbahnpontonbrücke bei Nünchritz und fuhr dann im Kraftwagen nach der Teilstrecke Zscheilitz und an schließend daran nach dem Viadukt bei Luga. — Rotzwet«. Der Glasschleifer Navacek wurde beim Auflegen eines Treibriemens ins Getriebe gezogen und so schwer verletzt, daß er starb. — Leipzig. Ein schwerer Unglücksfall ereignete sich ge stern nachmittag am neuerbauten Handelshof an der Grim- maischen Straße. An den Straßenseiten des Handelshofes sind Mosaikplatten aus Zement angebracht. Eine dieser Plat ten im Gewicht von über einem Zentner löste sich im dritten Obergeschoß aus der Fassung und fiel auf die Straße. Die 28jährige Kaufmannsehefrau Eichhorn und die 33 Jahre alte Kaufmannsehefrau Landmann wurden von der Platte -ge troffen und nicht unerheblich verletzt. — Leipzig. Ueber das Liebesdrama in Probstdeuben erfährt das „Leipz. Tgbl." noch, daß der schwerverletzte Alfred Hackebarth als Schriftsetzer in Leipzig gearbeitet hat. Er liegt an einem Lungenschuß schwer darnieder, doch ist die vorgenommene Operation gut verlaufen und man glaubt ihn am Leben zu erhalten. Wie weiter bekannt geworden ist, soll die Tat nachmittags gegen 5 Uhr nach einem vorausgegangenen Streit zwischen dem Liebespaar geschehen sein. Das als sehr ordentlich bekannte Mädchen wird allgemein bedauert, und glaubt man nicht, daß die Tat mit seinem Einverständnis vollbracht wurde. — Rodewisch. Der Maurer Oswin Hain von hier, der beim Neubau des Elektrischen Werkes beschäftigt war, wurde beim Umrüsten von einem umfallenden Holzbalken, der mit einer eisernen Klammer versehen war, so unglücklich am Kopfe getroffen, daß er nach wenigen Stunden starb. — Stolpe«. Ein Budenbrand war in der Nacht zum Montag auf dem stets vielbesuchten Dittersbacher Jahrmärkte entstanden, indem in dem Budenzelt der Pirnaer Obstwein-Firma Schupp u. Co. Feuer ausbrach. Ein Ueber- greifen auf die übrige Zeltstadt konnte noch rechtzeitig ver hütet werden; eine tragische Folge hatte der Brand jedoch in ¬ sofern, als di« Ehefrau eines Galanteriewarenhändlers, dessen Stand sich neben dem abgebrannten Schuppschen Zelt« befand, durch den Feueralarm so erschreckt wurde, daß auf der Stelle der Tod eintrat. — Re«s«lz«. In vergangener Nacht wurde in Neu- Oppach dem Steinmetz Robert Kriegel, der mit einem gewissen Trompler von Oppach in Zwistigkeiten geriet, von diesem mittelst eines Beiles die Hirnschale zertrümmert. Krieg«! dürft« kaum am Leben erhalten werden. Der Täter wurde verhaftet. — Vtrrsbach bei Löbau. Durch eine schon oft gerügte Unsitte ist am Sonntag der 12 Jahre alte 'Schulknabe Max Siegmund von hier verunglückt. Der Junge stellte sich bä einem radfahrenden Altersgenossen auf den Hinteren T«il de« Rades. Hierbei geriet er mit dem rechten Fuß zwischen Kette und Zahnrad, wobei ihm die große Zehe fast ganz ab gerissen wurde. r»gtr««tcdicdtt. Deutsche» «eich. — Aus dem Reichstagswahlkeis Stollberg- Schneeberg. Nach der anfangs von der sozialdemokratischen Presse beobachteten Haltung schlen es, als ob die Partei den Wahlkampf lediglich als eine angenehme Unterhaltung betrachte. Der seitherige Verlauf hat jedoch die Partei zu immer größeren Anstrengungen ermuntert. Vor allem war sie seither darauf bedacht, durch möglichst zahlreiche Versammlungen die Arbeiter von dem Besuch der Versammlungen, in denen der nationale Kandidat, Herr Vorwerk, spricht, abzuhalten. In dm nächsten Tagen wird auf beiden Seiten mit Hochdruck ge arbeitet werden. Wie die Geschäftsstelle des Nattonalliberalen Landesvereins mitteilt, werden die Herren ReichStagSabgeord- neten Dr. Stresemann, Dr. Görcke, Fuhrmann und voraus sichtlich auch Direktor Everling im Wahlkreis sprechen. — Zur Landtagswahl. In dem 12. städtischen Wahlkreis (Borna—Zwenkau) war von der nationalliberalen Partei Schuldirektor Edmund Müller-Zwenkau aufgestellt worden. Leider ist die Familie des Herrn Schuldirektor Müller von einem Trauersall betroffen worden, der ihn nötigte, besondere Verpflichtungen auf sich zu nehmen. Schul direktor Müller hat infolgedessen auf die Kandidatur verzichtet. Der VertrauensmännerauSschuß der nationalliberalen Partei hat in einer am 89. August in Leipzig abgehaltenen Ver sammlung beschlossen, Herm Kaufmann Emil Nitzschke aus Leutzsch als Kandidaten aufzustellen. — Der Kaiser bei den Uebungen der Hochsee flotte. Die Uebungen der Hochseeflotte und des Küsten panzergeschwaders bei Arcona vor dem Kaiser wurden am Montag in der Nähe von Stubbenkammer mit einem Nacht angriff sämtlicher Torpedobootsflottillen auf die in Fahrt be findliche Flotte beendigt. Der Kaiser kehrte 11 Uhr abends vom Flottenflaggschiff „Deutschland" auf die „Hohenzollern" zurück. Am Dienstag wurden die Uebungen unter Hinzu ziehung der Schul- und Versuchsschiffe und der Torpedoboote fortgesetzt. — Der Hansabund und die Rechte. „Zu diesem Thema schreibt die „Nationalliberale Korrespondenz": Die „Konserv. Korresp." regt sich darüber auf, daß auf Veran lassung des Hansabundes kürzlich eine chronologische Zu sammenstellung über die Abfallsbewegung in konservativen Reihen durch die Blätter gegangen ist. Was hat es, fragt sie angstbeklommen und schmerzerfüllt, mit der Vertretung Oie leisten Karns. Roman von Albert Graf von Schlippenbach, st». —— - <«a«dr»a «ro»t«0 4. Kapitel. In der Kreisstadt suchte Kurt vor seiner Abreise nach der Schweiz noch den langjährigen Freund und juristischen Berater seines verstorbenen Oheims, den Iustizrat Hörn, auf und verhandelte lange mit ihm. Der alte Herr, eines jener Originale, die in unsrer Zeit leider immer seltener werden, war dem Majoratserben zunächst recht mißtrauisch begegnet. Er kannte ihn ja von seiner leichtsinnigen Zeit her. Kurt begann die Unterhaltung damit, Hörn im Namen seiner Cousine zu bitten, ihre Interessen auch fernerhin wahrzunehmen und auch ihm selbst eintretenden falls seinen Rat zu leihen. „Wenn Fräulein von Barrs Angelegenheiten es er lauben, stehe ich Ihnen zu Diensten Herr Baron," meinte der Iustizrat trocken, „doch nur dann." Kurt verbeugte sich lächelnd. In geschäftsmäßiger Weise setzte er darauf dem alten Herrn seine Verhältnisse klipp und klar aus einander. Anfangs schaute Hörn etwas ungläubig drein, doch Kurt tonnte seine Angaben mit Beweisen belegen. Er nahm dem Iustizrat die Zweifel an der Richtigkeit seiner Vermögenslage auch nicht weiter übel, da Hörn ihn nur als Schuldenmacher kannte. Im Auftrag des Frei- Herrn Siegmund hatte der erfahrene Jurist damals ein Arrangement mit den Gläubigern getroffen, war also genau über alles unterrichtet. Seine strenge, zurückhaltende Miene klärte sich immer mehr auf, und als der neue Klient Ibn endlich bat, einen Schuldschein zugunsten von Agnes Barr aufzusetzen, und daran die Mitteilung knüpfte, die junge Dame bliebe laut Verabredung ruhig in Schwarzhof wohnen, leuchteten seine Augen vor Freude. Agnes war ja sein ausgesprochener Liebling, und die Sorge um ihre Zukunft lastete schon lange auf ihm. Seit dem Tode des Freiherrn Siegmund ließ es ihm Tag und Nacht keine Ruhe, was nun aus seinem Schützling werden sollte. Kein anderer kannte ja auch die beschränkten pekuniären Ver hältnisse der Waise so genau wie er. Nun sah er sie wenigstens für die nächste Zeit versorgt. Wer konnte vor aussagen, was später eintrat? Agnes' alter Freund schmunzelte vergnügt vor sich hin und reichte Kart die Hand. „Das ist recht! Das ist recht!" rief er ein über das andre Mal. „Ihre Fräulein Cousine ist ein Prachtmädchen. Einen besseren Bevollmäch ig!en für Schwarzhof konnten Sie gar nicht finden, und wenn Sie ihr, wie Sie beab sichtigen, noch etwas Betriebskapital zur Verfügung stellen, sollen Sie einmal sehen, wie sie den Besitz hochbringt. Damit sie aber auch die nötige Autorität hat, wollen wir die Vollmacht für sie gleich ausstellen." Der Iustizrat holte schließlich eine Flasche seines berühmten Johannis, bergers aus dem Keller, das größte Zeichen seines Wohl- wollens, und als Kurt zur Bahn fuhr, hatte er einen neuen Freund gewonnen. Tüchtige und offene Menschen wußte der alte Hörn zu schätzen. Daß Kurt Barr zu ihnen gehörte, hatte der ausgezeichnete Menschenkenner bald erkannt. Sobald der Iustizrat in seinem Arbeitszimmer wieder allein war, rieb er sich vergnügt die Hände. Er freute sich ja aufrichtig und herzlich über die günstige Wendung in Agnes' Verhältnissen; aber das war es nicht allein, was den wunderlichen Kauz so fröhlich stimmte und ihn beim Hin- und Hergehen im Zimmer öfter laut auflachen ließ. Hörn war nämlich nicht nur ein im Grunde herzensguter Mensch und vorzüglicher Jurist, sondern auch ein großer Spaßvogel; nur merkten es die Leute nicht immer, wenn er sie aufzog und sich über sie lustig machte. Seinen Ruf, stets aufs beste über alle Geschehnisse im Kreise unterrichtet zu sein, benutzte er gern, allzu neugierigen Menschen einen ungeheuren Bären aufzubinden. Doch noch eine andere Eigenschaft zeichnete ihn aus. Als Ratgeber vieler Familien kannte er manche intime Familien-Angelegenheiten. Wenn es ihm nun gelang, für ein geschehenes Unrecht auf irgend eine Weise Vergeltung zu üben oder gar es gutzumachen, bereitete es ihm eine wahre Herzensfreude. Und erwachte es immer so geschickt, kleidete die Pillen, die er den Leuten verabreichte, wie er es nannte, stets in Form eines Scherzes oder einer streng vertraulichen Mitteilung, daß die Be treffenden seine Absicht gar nicht oder sehr spät erst merkten. Heut wollte er sich nun einen Hauptspaß leisten und dabei die Nachbarn von Schwarzhof für die Vernachlässigung seines Schützlings Agnes und für die Teilnahmlosigkeit beim Ableben seines alten Freundes Barr gründlich be strafen. Die Ankunft des Majoratserben war natürlich in dem langweiligen kleinen Provinzstädtchen, wo jeder möglichst nach Neuigkeiten hascht, um sie brühwarm den Freunden und Gevattern zuzutragen, ein Ereignis gewesen. Zufällig tagte der Kreistag in Tempelbach, die Mit glieder desselben, unter ihnen eine Anzahl Großgrund- >esitzer aus der Gegend von Schwarzhof, versammelten ich just zu dem unvermeidlichen Schlußdiner der Beratung n dem einzigen Gasthof, der den Anspruch erhob, „Hotel" genannt zu werden, als Kurt von Barr dort vorüber zum Bahnhof fuhr. Selbstverständlich sprach man während des Essens, eine Reihenfolge der schwersten, nur kerngesunden Magen bekömmlichen Speisen, die in Riesenportionen auf getragen wurden, ausschließlich von dem neuen Herm quf Schwarzhof. Am unteren Ende der Tafel, wo die bäuer lichen Besitzer zusammensaßen, tuschelte man behaglich schmunzelnd sich seine einstigen Streiche zu, die, von Mund zu Mund gegangen, im Lauf der Jahre natürlich zu den wunderlichsten, merkwürdigsten Phantasiegebilden ausge wachsen waren. In der Mitte der Tafel thronten oie Vertreter der Städte, höchst würdig ausschauende, alte Herren, die mißbilligend über alles die weißen Köpfe schüttelten, was nicht in ihren engen Gesichtskreis passen wollte. Jeder von ihnen war wohl schon in der Residenz gewesen, hatte sich dort vorzüglich unterhalten und mit durstigen Zügen die Großstadtluft geatmet; doch das durfte man daheim nicht einmal ahnen. Um nur ja keinen Zweifel an ihrer felsenfesten Tugendhaftigkeit aufkommen zu kaffen, erklärten sie' im Brustton der Ueberzeugung, der Freiherr Kurt von Barr, der doch jahrelang die Freuden der Residenz genossen, Schulden über Schulden machte, müßte entschieden noch ein sittlich ganz verkommener Mensch sein. Keiner wagte für ihn ein entschuldigendes Wort einzulegen, lief ?r doch Gefahr, wegen laxer Grundsätze von seinen Mit bürgern über die Achsel angesehen zu werden. Besonders der Bürgermeister von Tempelbqch mußte sich sehr in acht nehmen. „Pietsch," hatte neulich seine Gattin in Gegenwart der Stadtverordneten Korbmachermeisters Block gemeint, „seit dem du im Provinziallandtag sitzt und immer nach Berlin mußt, verwilderst du!" „Ich begreife dich nicht, mein Schatz," stotterte derBürger- meister in höchster Verlegenheit. „Jawohl!" Madame Pietsch maß den Gatten mii inquisitorischem Blick. „An Stelle der soliden Klappkragen, die jeder anständige Ehemann trägt, hast du dir in Berlin neumodische Stehkragen gekauft. Pietsch, das läßt tief blicken! Ich traue dir nicht mehr!" Oben, am Ende der Tafel, wo der Großgrundbesitz, im Kreise Tempelbach noch ausschließlich in Händen de« Adels, speiste, ging man ebenfalls scharf mit Kurt Barr ins Gericht. Graf Walkerode, als Landrat der Gastgeber des Kreistagsdiners, versuchte zwar die Standesgenossen zur Mäßigung zu ermahnen und ihnen klarzumachen, der Erbe von Schwarzhof könnte sich doch geändert haben, allein er wurde einfach überschrien. Schon bei der Erbsensuppe mit Schweinsohren war man sich darüber ganz einig, daß der Freiherr Kurt noch derselbe Schuldenmacher sein müßte wie ehedem. Beim keineswegs angenehm duftenden Schellfisch mit Mostrich sauce wußte man bereits, wie hoch er sein Erbe mit Pfand briefen belasten wollte, um seine Gläubiger „da unten" zu befriedigen. Als Pökelrinderbrust mit (Sauerkohl erschien, und die Kellnerburschen in fettigen, schwarzen Jacken dazu Backpflaumen, sauersüße Gurken und Preiselbeeren als Kompott auf den Tisch stellten, gab man der Ent rüstung Ausdruck, den Liederjahn nun dauernd als Nach barn zu bekommen und seine Gattin, geboren? Neumann oder Lehmann, im feudalen Kreise Tempelbach-Wonne burg dulden zu müssen. Bet der süßen Speise, einem un verdaulichen, mit brennendem, stark nach Fusel duftenden Rum übergossenem Gemenge von Mehl, Fett und Ro, sine«, das der Wirt, ohne zu erröten, Plumpuddin nannte, aber, wohl um das bleischwere Niedersinken dieses Produktes seiner Kochkunst in den Magen der Gäste anzudeuten, „Plumppuding" schrieb, beschloß man an de, aristokratischen Ecks fast einstimmig, den unwürdigen Standesgenossen mit seiner Gattin, geborenen Neumann oder Lehmann, völlig zu ignorieren. Bei Butter und Käse — natürlich Limburger und Handkäse — sprach man dann noch nebenbei sein Bedauern aus, daß Agnes Barr — Gott! das arme Ding hatte ja keine Mitgift — diesem Menschen weichen müßte. Aber was sollte man machen f Man mußte sie eben ihrem Schicksal überlasse«, (^»risitzun, fHt.)