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hauptsächlichsten Inhalt der unS freundlichst überlassenen Briefe wieder: Barcelona, 28. Juli- Die ernste Lage in Barcelona hält an. Da» gestern erwähnte Seminar gegenüber von meiner Wohnung ist noch nicht ab gebrannt, da die Revolutionäre gestern überrascht wurden und sich letzt da- Militär versteckt im Gebäude aufhält. Heute aber steht man andauernd solche Kerls am Seminar vorübergehen, um bei der geeignetsten Gelegenheit dieselbe auSzunüben und Feuer an- zulegen. Solange aber da» Militär da ist, wird eS wohl schlecht gelingen. Beim Schreiben dieses Briefes wird wieder stark ge schossen, so daß einem bald etwas Angst wird. Nun noch einiges über den Verlauf de» gestrigen Nachmittags. Nachdem ich den Brief zur Post gegeben hatte, war bereits der Weg nach meiner Wohnung durch Militär abaeschnitten. AlS ich aber dem besehlS- habenden Offizier sagte, daß ich Deutscher sei und unbedingt nach Hause müßte, gab er einem Soldaten Befehl, mich bis nach, «einer Wohnung zu begleiten und ich kam somit wohlbehalten zu Hause an. Wie ich Euch sagte, hatte man in einigen Straßen hohe und widerstandsfähige Barrikaden amgerichtet, zu deren Beseitigung gestern nachmittag gegen S Uhr mehrere Geschütze aufaesahren werden mußten, um die Barrikaden mit zehn scharfen Granaten unter dem schrecklichsten Donner zusammenzuschteßen. Gegen >/,7 Uhr entspann sich in einem anderen Viertel der Stadt ein hartes Gefecht zwilchen Revolutionären und Militär, welches ca. '/« Stunde andauerte. Das Donnern der Gewehre und Revolver kann ich Euch nicht beschreiben. Nur eins kann ich Euch sagen, daß wir mitunter im Balkon unsere eigenen Worte nicht verstehe» konnten. Wieviel Tote und Verwundete es gegeben hat, werden wir erst später erfahren. — Es ist jetzt 12 Uhr mittags (29./7.) und es scheint sich ein neuer schwerer Kampf entwickelt zu haben; denn seit V, Stunde wird andauernd heftig gefeuert. Die Straßen sind menschenleer, nur sieht man vom Fenster aus Kavallerie vorbetreiten. Gestern sind von Zaragoza zwei Regimenter Kavallerie hier eingetrosfen, um die hiesigen wenigen Truppen zu unterstützen, denn man befürchtet, daß es die Revolutionäre aufs Aeußerste treiben wollen. Die Revolutionäre selbst haben gegen daS Volk nichts, auch nichts gegen das Militär, im Gegenteil, wenn die Truppen geritten kommen, rufen sie noch .Hoch" aus und machen Platz. — Ein Grund, welcher für die Revolution ein sehr schwerwiegender geworden ist, liegt in der Dienstzeit des spanischen Militärs, nämlich deshalb, weil hier die Reichen nicht zu dienen brauchen, wenn sie an den Staat 1500 Pesetas zahlen. ES läßt sich natürlich leicht erklären, daß das Volk sich dies nicht mehr gefallen lasten will, nachdem jetzt die Armen in den Krieg ziehen müssen, während sich die Reichen eins inS Fäustchen lachen und noch sagen, warum haben die denn nicht bezahlt! Jedenfalls gebe ich in dieser Beziehung den Leuten ganz und gar recht, wenn sie sich gegen die Regierung erheben und Revolution machen, eine Gelegenheit, wie sie vielleicht nicht gleich wieder eintreten dürfte. Ich bin davon überzeugt, daß, sobald wieder Frieden hergestellt ist, in Spanien einige bedeutende und für den Staat schwerwiegende, aber für daS Volk (Mittelstand und Arbeiter) erleichternde Aen- derungen eintreten werden; vielleicht kommt es, wie ich Euch schon gestern sagte, gar zur Republik, was allerdings daS Aeußerste wäre; aber ehe es soweit kommt, muß es schon schlimm hergehen. (Nach einer neueren Meldung ist die Bestimmung, daß man sich von der Dienstpflicht loskaufen kann, aufgehoben worden. Die Redaktion.) Der Verkehr wird jedenfalls sogleich nicht wieder ausgenommen «erden, ebenfalls wird es noch einige Tage kein GaS geben, waS daS Unangenehmste ist. Ihr könnt Euch vielleicht einen Begriff davon machen, wenn eine Stadt wie Barcelona ohne Licht ist. Die Elektrizität ist nicht ausgeschaltet bis heute, man spricht aber auch davon. In Zeitungen kann man eben nichts lesen, da es solche nicht mehr gibt. Ist das nicht traurig? Keine Zeitungen, keine Züge, weder Telegraphen noch Telephone. Wir sind seit drei Tagen wie von der Welt abgeschnitten, nicht einmal mit 'UldriilT'weder^»r^dem Schlachtfeld in Marokko flehen wir in Verbindung. Ernst, sink die gegenwärtigen Vorgänge in Spanien, aber am schlimmsten die von. Barcelona, denn augen blicklich wird stark geseuert. Natürlich bin ich aüäev^^r Gefahr. Wetter heiß und schön. . Soeben feuern die Geschütze wieder. 4.25 Uhr nachmittag. Barcelona, 30. Juli 1909, mittag. Die Lage Barcelonas ist noch immer sehr ernst, obgleich heute im Verhältnis zu gestern und vorgestern wenig geschossen wird. Damit Ihr Euch von den Kämpfen einen Begriff machen könnt, will ich Euch sagen, daß eS bis gestern mittag in Barcelona ca. 300 Tote und mehr als das Dreifache Verwundete gegeben hat. Die Hospitäler sind gefüllt bis auf daS letzte Bett. Bereits heute hat man die Schrecken der Nonnenklöster und Konvente, welche ntedergebrannt worden sind, entdeckt. Folterkammern und andere derartige Instrumente sind vorgefunden worden, sogar Skelette von Frauen, welche in Mauern eingeschlossen oder auf andere schreckliche Weise von ihren eigenen Betschwestern hinge- mordet wurden, sand man in den Trümmern. Mit einem Worte, man kommt jetzt langsam dahinter, welche Miseren und Mißhand lungen, ich will nicht sagen Schweinereien, in den Klöstern Vorkommen. Man spricht sogar davon, daß es m einem hiesigen Konvent ein öffentliches Haus gegeben hätte. Und wenn man die Nonnen oder Schwestern auf der Straße gehen sieht, will man nicht glauben, daß hinter diesen „unschuldigen" Gesichtern die schlechtesten Gedanken der verrufensten Frauensperson stecken. Ich für meinen Teil bin in dieser Hinsicht vollkommen aus Seiten der Revolution und bedauere, daß nur ca. 20 Konvente (von ca. 100, welche eS hier gibt) niedergebrannt worden sind; denn die Zustände sind tatsächlich traurig in den Klöstern. Na, vielleicht bringt die jetzige Revolution noch so Verschiedenes an den Tag, was daS Volk in Aufregung setzen wird. In einer Kirche hat man heute früh in einem unterirdischen Gewölbe, was glaubt Ihr wohl, gesunden? — eine „Falschmünzmaschine". Und wer sind die Falschmünzer? Die Pfaffen, die schein heiligsten Leute der Welt. Und diese wollen den Menschen noch Gute» lehren! Na, Gott sei Dank, daß wir in Deutschland nicht so schlecht dran sind! DaS Seminar ist noch nicht abge brannt worden, da eS noch stark von Militär besetzt ist. Zuge und Dampfer verkehren nur ganz vereinzelt. Seit DienStag ist heute mittag die erste Auslandspost abgegangen, und zwar aus großem Umweg (teils per Dampfer, teils per Zug) nach Frank reich, so daß Euch der Bries, den ich Euch vorgestern und am DienStag schrieb, wohl in ca. acht Tagen erreichen dürfte. Vom Ausland ist seit vier Tagen keine Post einaetroffen, ich bin auf diese Weise auch nicht in den Besitz Eurer Nachrichten gekommen, waS wohl nun auch nicht so bald der Fall werden dürfte; denn wer weiß, wie lange die Strecken ausgerissen bleiben. Das Schießen hat ziemlich nachgelassen, eS scheint etwas Ruhe eintreten zu wollen, wenigstens vorderhand. Wir müssen abwarten, was die folgende Nacht bringen wird. Heute mittag sind wieder drei Kirchen und Klöster in Brand gesteckt worden. — Gestern nachmittag wurden 12 Revolutionäre laut Standrecht im UniversitätShof erschaffen. — Die Straßen sind ausgestorben. (30. Juli 1909, nachmittag» 4'/. Uhr.) Nachschrift: Nachmittag 7 Uhr: Ganz in der Nähe meiner Wohnung befindet sich das Klubhaus der Revolutionäre, welches noch heute abend der Schauplatz eines harten Kampfes werden sollte. Auf dem Dache dieses Hauses hatten sich die Revolutionäre versteckt und eröffneten um 6 Uhr auf daS Militär, welches sich in den Straßen befand, ein ziemlich starkes Revolverfeuer. Zwei Kompanien Kavallerie nahmen ca. 100 Schritt von meiner Woh nung Feueraufstellung und überschütteten das Klubhaus eine Stunde lang mit einem mörderischen Kugelregen. Ich konnte von meinem Fenster aus (natürlich versteckt) vas Schießen und die Be wegungen der zwei Kompanien beobachten. Um 7 Uhr wurde das Feuern eingestellt, worauf die Sanitäter kamen, um die Toten und Verwundeten zu versorgen. Ich fragte soeben den Posten an meiner Haustür, wie der Kampf verlaufen sei. Er sagte: 4 tote und 20 verwundete Soldaten. — Das Wetter ist Heitz und der Himmel stahlblau. OeiMbrr «n» 5Scdrircber. Frankenberg, 9. August 1909. Die Liebe zum Farbige«. Im Anschluß an die Ermordung einer Berliner Tänzerin durch einen eifersüchtigen Chinesen, über die wir berichteten, schreibt man dem „B. T.": „Es ist eine recht traurige Tat sache, daß eine gewisse Art von Weiblichkeit, ob hoch, ob nie drig, ein sonderbares Faible für alles Exotische hat. Als Buffalo Bill noch mit seinen Indianern am Kursürstendamm hauste, teilte mancher Vollblutindianer seinen Wigwam mit einer vom „Exotenkoller" befallenen Berlinerin, und nun erst unsere neuen schwarzen Landsleute in der Kolonial- und die Araber in der Kairo-Abteilung der letzten Berliner Gewerbe ausstellung. Sie alle wurden mit Liebesbriefen und Rendez- vous-Anträgen förmlich überschüttet, und manche Kellner diente den Oouloursä 6snts als Dolmetsch. — Im vergan genen Jahre gelangte in "»em Berliner Zirkus eine Neger- Pantomime zur Aufführung, zu der eine große Anzahl Far biger ans allen Himmelsrichtungen zusammengetrommelt wurde. Diese Pseudo-Artisten, von denen mancher noch vor kurzem in irgend einer Hafenstadt als Kohlentrimmer gearbeitet, fühlten sich nun auch als Künstler und mischten sich stolz unter ihre neue „Berufsgenossen" im ArttstencafS. Auch hier drängte sich ihnen die holde Weiblichkeit geradezu auf, und bald kam es zu Eifersuchtsszenen, wobei manche farbige Wange durch schlagende Beweise von „deutscher Liebe und Treue" überzeugt wurde, bis schließlich die Hoteldirektion ta bula raaa machte und allen Farbigen den Zutritt zu ihren Räumen verbot. — Auch die Marokkanertruppe im Panopti kum übte dieselbe Anziehungskraft auf den weiblichen Teil des Publikums aus. Die „holden Schönen" belagerten nach Geschäftsschluß die Pforten des Muientempels und stolz sch man die braunen Wüstensöhne im weißen Burnus mit ihren » Dulcineen lustwandeln. Ganz besonders scheinen sich aber I die Japaner der Huld der „Damen" zu erfreuen, denn tag täglich sieht man sie, am Arm ein hübsches Mädchen, im Tiergarten lustwandeln. Daß nun auch die kleinen Artistin nen diesem Kult huldigen, ist schon mancher zum Verhängnis geworden — so erst jetzt wieder der leichtlebigen Chansonette Hilde Hoffmann, die in unbedeutenden Tingeltangeln ihr Sümmchen erschallen ließ und von einem eifersüchtigen gelben Himmelssohn in Frankfurt a. M. niedergeknallt wurde." — Das hier gesagte deckt sich mit dem, waS wir vor einiger Zeit aus Anlaß eines besonderen Falles über die — Schwär merei eines Teils unserer „holden Weiblichkeit" für das Aus ländertum zur Warnung anführten. Trotz aller beklagens werten Vorgänge aber bleibt für gewisse „Damen" der Aus länder etwas „Besonderes" und „Begehrenswertes!" Vor kurzem konnten wir in Chemnitz beobachten, wie einige Aus länder in ihrer Muttersprache sich über die „Dame" in ihrer Gesellschaft lustig machten und allerlei — Zotenhaftes äu ßerten. Das Mädchen aber, das natürlich kein Wort ver stand, tat „gebildet" und lachte in seiner — Dummheit mit über die unverschämten Witze. — Zur Einsicht kommen solche Mädchen stets dann, wenn es zu spät ist! f* Endlich Sommer ist es geworden und die Wetter karte sieht — zum ersten Male in diesem Sommer — aus, als ob das gute Wetter uns jetzt länger als 24 Stunden treu bleiben wollte. Das ist im Interesse der in der „Sommer frische" Sitzenden, vor allem aber im Interesse unserer Land wirte, die nunmehr die Getreideernte begonnen haben, sehr zu begrüßen. In unserer Stadt herrschte an dem gestrigen herr lichen Sommersonntag reger Ausflugsverkehr. Es wurden auf dem hiesigen Bahnhof 2325 Fahrkarten verkauft, darunter 1321 nach Chemnitz. Folge« der Tabaksteuer. Zu der Notiz, in der Zigarren - Industrie beschäftigten Heimarbeitern sei für 15. August gekündigt worden, wird uns mitgeteilt, daß dies nur für einen größeren hiesigen Betrieb zutreffe. f Wie erklärt sich daSs Etwa ein Jahr ist verstrichen, als der aus Frankenberg gebürtige, in Chemnitz aufhältlich gewesene Bauschüler Krinitz bei Rosendorf spurlos verschwunden ist. Trotz aller Nachforschungen hat man eine Spur nicht entdecken können. Jetzt wird wieder das Verschwinden eines jungen Chemnitzers gemeldet. Nach einer an das Tetschener Polizeiamt gelangten Mitteilung ist der 17jährige Sohn des in Chemnitz, Barbarossastraße wohnhaften Geschäftsbesitzers Otto Steger seit dem 3. August abgängig. Der junge Mann hatte einen Ausflug in die Sächsisch- Böhmische Schweiz unternommen, hatte die Edmundsklamm besucht und war hierauf weiter gewandert. Seitdem fehlt jede Spur von ihm. Der Vermißte ist schlank, blond und war, als er seine Wanderung antrat, mit dunkelgrauer Hose, mit Gamaschen, Lodenrock und grünem Lodenhut bekleidet und hatte einen grünen Rucksack bei sich. — Auffällig ist das Verschwinden zweier iuyger Leute innerhalb Jahresfrist an käst derselben «reue, als seien sie vom Erdboden verschwunden. Hoffentlich gelingt es den Behörden, Licht in diese dunkle Angelegenheit zu bringen. f* Die Getreideernte hat nun auch auf den Fluren in unserer Gegend begonnen. Allem Anschein nach bekommen wir nun beständiges warmes, für die Ernte günstiges Wetter, das der Landmann sehr nötig braucht. Nach der Schätzung der Preisberichtsstelle des Deutschen Landwirtschaftsrats vom 1. August, ausgedrückt in Prozenten, steht folgendes Ernte ergebnis zu erwarten: Die Mittelernte ist für Winterroggen 96,6 gegen 92,2 am 1. Juli, Winterweizen 89,0 gegen 99,7 am 1. August 1908, Sommerweizen 95,4 (94,5), Winterspelz 98,6 (99,9), Gerste 99,3 (91,7), Hafer 100,8 (88,1), Kleeheu 68,5, Wiesenheu 66,40. Ebersdorf. Die Vorbereitungen zu der in diesem Herbste stattfindenden allgemeinen Landtagswahl sind hier beendet. Danach sind 885 Ortseinwohner stimmberechtigt, von denen 580 mit je 1 Stimme, 190 mit je 2 Stimmen, 39 mit je 3 Stimmen und 76 mit je 4 Stimmen von ihrem Stimmrecht Gebrauch machen können. Der Ort wird in 3 Wahlbezirke mit folgender Abgrenzung eingeteilt: 1. Be, Eva. Novelle von Helmuth ian Mor. Der Ichlaute, junge Mann in der eleganten Besuchs toilette hatte strahlend gelächelt, als Eva zu ihm aufsah. Es war ihm gar nicht in den Sinn gekommen, daß er etwas Unrechtes oder auch nur etwas Keckes getan haben könnte. Das junge Mädchen war so unwirklich hübsch — so elfenhaft. Oder nein — elfenhast war auch nicht das rechte Wort. Aber das Ganze war wie ein Märchen gewesen — die reglose Stille, der weihe Sonnenschein auf dem Wege und die Bläue des Himmels — und das schlummernde Mädchen im Schatten der beiden Bäume, und der Schatten noch glutvoll und voll heimlicher Sonnen strahlen — — Er hatte gar nichts dagegen tun können — er muhte sie küssen. Aber nun war ihr Gesicht ganz weiß geworden vor Schrecken, und mit einem Blick sah sie ihn an — mit einem Blick! Das Lächeln verschwand aus seinen Zügen, und er wurde sehr betreten. Der Märchenzauber war verflogen — und er dachte: Da hast du was Hübsches gemacht. Eine fremde Dame zu küssen! Und er sand, daß es furchtbar heiß sei. Aber er muhte doch irgend etwas sagen. Zunächst einmal zog er den Hut und verbeugte sich sehr tief. Und dann stammelte er: „Gnädiges Fräulein —" Weiter kam er nicht. Mit dem ersten Wort hatte sich Evas Erstarrung gelöst. Sie fuhr empor, so wild, dah der Zopf sich vollends löste und eine dicke Haarsträhne über ihr Gesicht fiel, sprang aus der Hängematte, wobei sie beinahe gefallen wäre, und zog sich um ein paar Schritte von dem fre nden Menschen zurück. Da stand sie, an den Stamm der Eiche gedrückt, und stieß verzweifelt hervor: „Gehen Sie l — Gehen Sie — sonst rufe ich um Hilfe I" Er hielt noch immer den Hut in der Hand und rührte sich nicht. Hililos und kläglich stand er da wie ein Schul junge, der Aepfel gestohlen hat und nun eine Tracht Prügel erwartet. Er konnte doch nicht so einfach gehen — muhte irgend etwas sagen. Nur dah ihm gar nichts einsatten wollte. Er machte noch einmal einen Ansatz und begann wieder: „Gnädiges Fräulein —" Sie hatte das Gesicht zur Seite gewandt und winkte mit beiden Händen. Sie sah wirklich so aus, als wenn sie gleich anfangen würde zu schreien. Das wollte er denn doch nicht gern. So verbeugte er sich tief und ging rasch davon. Solange seine Schritte hörbar waren, rührte sich Eva nicht. Dann griff sie halb mechanisch in ihr Haar und be gann, den Zopf festzustecken. Aber ehe sie noch damit fertig war, schluchzte sie plötzlich auf, schlug die Hände vor das Gesicht und lief den Weg hinunter, dem Herrenhaus zu — lief und lief, bis sie auf ihr Zimmer kam. Da warf sie sich auf das Bett, wühlte den Kopf tief in die Kissen und weinte. Harry von Sidow schlenkerte mit der Reitpeitsche und summte behaglich eine lustige Melodie vor sich hin. Die Zügel hielt er schlaff in der Rechten — den Weg zum Stall fand der Gaul auch ohne Hilfe des Reiters. Der junge Mann hatte Grund, vergnügt zu sein. Er war ins Vorwerk hinausgeritten, weil es hieh, einer der Schnitter sei vom Hitzschlag getroffen worden. Es mar aber blinder Lärm gewesen, der Gott weiß wie entstanden sein mochte. Und zu der Erleichterung der herrliche Tag, der gute Stand der Felder, das prächtige Wetter zum Einbringen der Ernte — Ursache genug, den Sohn des Gutsherrn heiter zu stimmen. Wie er an der Front des Herrenhauses entlang ritt, sah er über die Brüstung der Veranda. Da saß Eva ; eine Hand arbeit hielt sie in den Händen, die müßig im Schoß lagen, und starrte weltvergessen vor sich hin. Harry war zum Plaudern aufgelegt und hielt den Braunen an, der mit hängendem Kopf stehen blieb, die Zunge weit aus dem Maul. „Du — das war nichts mit dem Hitzschlag. Die Leute sind alle ganz vergnügt und wohlauf. Wie der alte Peters wohl zu seiner Nachricht kaml" Eva sah auf. „Das ist ja gut," sagte sie müde. „Ja, nicht wahr? — Wo hast du übrigens den ganzen Tag gesteckt? Der neue Arzt war hier und hat sich vor- gcstellt. Der gefällt dir gewiß — er schwatzt nicht und wirft nicht ewig mit lateinischen Worten um sich herum wie der alte Sanitätsrat. Papa hat ihn für heute zum Diner ein geladen." „Welcher neue Arzt?" Harry lachte und warf ihr neckend ein paar Blätter des wilden Weines zu, mit dem die Veranda berankt war. „Ich glaube, du lebst zuweilen in einem anderen Lande, Eva! Weißt du denn nicht, daß der alte Sanitäts rat sich zur Ruhe setzen will? — Doktor Schweighoff — so heißt der Neue — ist vorläufig nur sein Assistent. Aber er soll sehr tüchtig sein, und ich glaube, der wird sicher Ellangers Nachfolger im Erholungsheim." Evas Interesselosigkeit für alles, was er sagte, war augenscheinlich. Sie spielte mit einem Blatt, das sich ihr auf die Hände gelegt hatte, und erwiderte nur: „So?" „Ich sehe schon, ich habe kein Glück mit meinen Neuig keiten," meinte Harry resigniert. „Was in deinem Kopf vorgeht, möchte ich zu gern mal wissen, Ev l — Uebrigens ist es halb vier — ich muß mich noch umziehen zum Essen. Lebe wohl und träume glücklich, kleine, lange Schwester." Er liebte seine Eva zärtlich. Als er bis zum Ende der Veranda gekommen war, wandte er sich noch einmal jm Sattel und nickte ihr lächelnd zu. Eva sah ihm nach, wie er zu den Stallungen hinüberritt, und ihr Gesicht ver zog sich schmerzlich. Wie war heut alles anders als sonst — die Welt um sie her hatte sich verwandelt und ein remdes Aussehen angenommen. Wie gern hatte sie sich onst mit ihrem Bruder unterhalten! Wie lustig waren ie zusammen gewesen, und wie wichtig war ihr alles, was er sagte! Wie viel hatten sie sich immer zu erzählen — wie unendlich viel, für das sie sich beide interessierten „Du lebst zuweilen in einem anderen Lande," hatte er gejagt und sicherlich nicht geahnt, wie er sie damit traf. Es war ihr ja wirklich, als hätte man ihr heut die Heimat ge nommen und sie in die Fremde verbannt. Es war ihr, als hätte sich zwischen ihr und dem Bruder eine Schranke aufgerichtet — eine Schranke, die sie auch von all den anderen trennte, mit denen sie zusammenlebte. Sie teilte ihre fröhliche Unbefangenheit nicht mehr, ihre kleinen Leiden und Freuden waren ihr gleichgültig geworden. Was ging es sie an, ob die Ernte gut oder schlecht war! Was ging sie 's an, ob in das Erholungsheim, einer wohltätigen Stiftung, deren Protektor ihr Vater war, ein neuer Arzt kaml Und all die tausend Dinge, die die anderen beschäftigten und für die anderen Bedeutung hatten — sie hatte keinen Teil daran. Das aber, was sie dachte und empfand — davon wußte niemand etwas, davon konnte sie gegen nie manden sprechen. - (Fortsetzung folgt.)