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verworrenes Freudengeschrci dringt zu uns herauf, als Wiß müller und seine Leute, die alle den ersten Niesen- Besteigen, dieses JahrcS nachgcschaut, unS endlich oben schweben sehen. Wie überaus herzlich und friedlich klingt alles, was Menschen nähe verräth, in dieser stummen Bergöde bei nächt lichem Dunkel. — Unser Milchträger tastet nach der Tbüre und dem Schüsselloch; eine Weile tap pen wir in der Finsterniß umher bis er die Ker zen gefunden, und uns dann das Häuschen zeigt, welches ein Unten und Oben mit 3 Stube», einer Küche und Laube begreift, alles noch im Winter srand mit holzvernagelten Fenstereröffnungen, bis auf das untere Kämmerlein, wo bereits eine Glas scheibe eingehängt. Im Auftrag des besorgten WirtheS will der Bcrgjnnge gleich „Fücr" ma chen, doch wider Erwarten ist eS heute so wenig kalt, daß ich ohne Mantel in meiner Linnenklei dung beim Mondschein, der inzwischen hcraufgc- leuchtet, auf der Laube bin und her gehe und mir den ungeschlachten Buckel des Stockhorn betrachte. Eine Zeitlang feiere ich hier im Schutz der Hütte, bis die paar Wölklein, welche beim Sonnenunter gang einen streitigen Aufgang geweissagt, die Him- inclsenge vom Niesen zum Stockhvrn allgemach umspannen, ein sterndurchzogcueS Dunstgewebc, in dem das Mondlicht sich verwirrt. Mein Schlafgemach wird mir bei der noch leeren Bettstelle zum Sitzgcinach; um mich auf der weichen Holzbank dennoch nicht zu verschlafen, lasse ich das Licht brennen und lege die Uhr da neben. Meine beiden Schutzmänner, die ich hinauf geschickt, haben sich endlich den Schlaf herbeige schwatzt; man ist furcht- und sorglos in der Hohe, wäre der Wind nicht, Schloß und Niegel würden vergessen. Tiefe Stille stummt umher, nur die Luft pfeift um die Hütte. Gedämpft aus der Tiefe verirrt sich bisweilen ein Schall vom Geläute der Viehhcerden herauf, das mir hier, in solcher Ent fernung und in solcher Kirchenstille, zum erstenmal wie Festgcläute klingt. Die Männer schnarchen, leise pickert die Uhr; trübgemuth schattet die alte Fensterscheibe den Vollmond ab; immer matter flackert die uubcdiente Kerze, immer näher schreitet die Geisterstunde, und mit ihr erscheint — wer, um's Himmelswillen? — der Schlaf. — In der seligen Spannung aller Gefühle bis zum einen Maaß der Unendlichkeit, wo alle Stoffe und Ge- staltenrissc zeitlos durcheinander schweben und schal ten , wähnen wir uns unsterblich groß und reich, bis der armselige Weber, der Verstand, seine dün ne» Lichtfäden hindurchzichen will, und mit seinen scharf cinfurchcnden Luftschiffen die nächtliche Zau- bcrflut niedercbbel. Auf dem Niese», den 16. Brachmonat. Es sieht trüblich aus, doch wir schreiben cS der Nacht zu, überlassen nach 1 Uhr dem Milch träger die Hütte und wanken schlaftaumelnd an unfern Bergstäbcn die steile Niese »spitze hinauf. Ein einziges Gefühl bei dem flimmernden Nacht licht knielings nach einem sichern Fußsatz zu streben in dem hartgefrornen, pfadlosen Grase, das oft noch von Schnee oder spitzem Gestein belagert ist. Nach einer halben Stunde langen wir, schweigsame Schatten im Schalten, bei der Schaafshüne an, welches sanfte Kopfhängergeschlecht überall ans die höchsten Triften vorgeschoben wird; das stör- rige Rindvieh wird selten so hoch getrieben, und dann nur auf kurze Zeit. Unterdessen ist es etwas heilig geworden und wir blicken eine Weile zurück in die graue Tiefe, den jähen Niesenhang hinab, mit der stillen Verwunderung, wie uns doch die Dunkelheit so sorglos gefördert. Das kindliche Zutappen reicht meist weiter denn die ängstlichste Schriltbercchnung. Weil die Kinder weniger den ken und weniger färben, sind sie auch reiner und besser als wir. Das, was unser» größten Vor zug ausmacht, dem Guten Bewußtsein zu gebe», ruft auch unser Verderben, das Bose, hervor. Der kindliche Sinn eines unverdorbenen Gcmüths wiegt alle Bedenken ein und trägt uns schlum mernd über die gefährlichsten Abgründe hinweg; das schöpfungspfljchtige Denken führt uns mit offnen Augen d'ran und läßt uns schwindelnd stehen. Was rettet uns allein? die Rückkehr zum verschmähten Kinde: das ist das ganze Geheinmiß der Sclbstverläugnung, das wachende Nacht- wandlerthnm. Nun gilt cS noch eine Stunde Herzabstoßcn; der Niesen vcrstehr's wahrlich besser, als man cher französische Geschichtsdichter mit seinem ewigen „oruol! poilillo!" Solche kränkliche Arzneien der Fremden sollten eigentlich im erstarkenden Deutsch land nur als Tvlikrant für Unheilbare aufbewahrt werden. Bei der hintern Ni esc»spitze, allwo ein halb- verwittertes Schutzmäuerlein zum senkrechten Sturz in die Felsenzähne des Berges entladet, trifft mich der erste Schein vom Morgcnroth, das glühend im Osten zuckt und steigt, eben als im Westen der verbleichende Vollmond die bläulich abdufkenden Thalgründe verläßt. Von da zieht ein pfadbreitcr Sattel, schrittweis eine unterwühlte Erdrinde, zum vorder» und höchsten Gipfel, wo der gewaltige Niesen ans der Endspitze seines stundenweit aus greifenden StrcbenS sich zu einem Kreisraum, einer Wellschau verengt, die kaum 12 Menschen gefahr los tragen kann. Die Luft bläst schneidend kalt, cs ist 3 Uhr, und in Erwartung der Sonne erglühen sanft die Firnen der schroffen Bergwclt im Süden, von der BlümliSalp bis znm Fin stera a rh orn, wäh rend zu ihren Füßen und über dem Spiegel des Thuner und Brienzer Sce'S ringsum alles noch im blauen Dunst verharrt. Die Kälte bringt