„Karlsruher Tagblatt“, den 17. und 22. Juli 1924. Am Samstag um die Mittagsstunde umlagerte die Stiftskirche eine durch fortwährenden Zuzug ins Riesenhafte wachsende Menschenmenge und wartete geduldig im glühenden Sonnenbrand, bis endlich die Kirchen pforte sich auftat. Es galt die „Motette" zu hören, die vom Dresdner Kreuzchor gesungen wurde. Das war ein Gottesdienst in Tönen! Erden fern zog eine jenseitige Welt herauf . . . . . . Die Aufführung der ungekürzten Matthäuspassion bei ungewöhn licher Hitze war eine Rekordleistung für Ausführende und Hörer. Sie erschloß alle Schönheiten der Riesenschöpfung. Ihre rühmliche Durch führung, die an die Ausdauer der Mitwirkenden höchste Anforderungen stellte, ist in erster Linie der Arbeit Prof. Otto Richters zu verdanken. Von dem Geiste Bachs durchdrungen, ist es ihm gegeben, auch seine Werkzeuge mit diesem Geist zu erfüllen. Wo jeder, vom Führer ent flammt, sein Bestes gab, konnte sich eine Gesamtwirkung einstellen, die tiefgehende und unvergeßliche Eindrücke schuf. Nicht daß jedes einzelne hier wie auch bei der Wiedergabe der anderen Werke den Stempel des Vollendeten trug — das ist unmöglich, wenn so viele Kräfte, die sich vorher fremd waren, in der Erreichung eines Zieles sich zusammenfinden. Da ist es dann die feste und sichere Hand des über der Materie Thronenden, die Kraft seiner Führereigenschaften und das von seiner Persönlichkeit ausgehende geistige Fluidum, das dem Ganzen zur inneren Geschlossen heit verhilft. Alle diese Faktoren vereinigen sich in der Persönlichkeit Otto Richters, und die Empfindungen für seine überragende Stellung als Bachinterpret fanden ihren Ausdruck in den Beifallsstürthen, die sich nicht legen wollten . . . . . . Prof. Otto Richter, hat so gar nichts vom Pultvirtuosen an sich . . . Dieser „rücksichtslose" Dirigent erzielt aber mit seiner Art ausgezeichnete Leistungen. Insbesondere fiel die Sicherheit und Klangschönheit des Chores auf. Wie Richter bei der Chorbesetzung die Situation zu wahren verstand, mag man daran erkennen, daß er die Kundgebungen der Jünger, der Knechte und Mägde, des Hauptmanns und der Kriegsknechte von einem besonderen kleinen Chore singen ließ, wofür ihm allerdings ein vorzüglicher in der Stuttgarter Madrigal vereinigung zur Verfügung stand. Richter ist ein Bachinterpret, der, um mit Alb. Schweitzer zu reden, ganz in die Gefühlswelt Bachs ver senkt, mit ihm lebt und denkt, mit ihm schlicht und bescheiden wird und daher in der Lage ist, ihn richtig zu Gehör zu bringen. Ihm ist es gegeben, die Ausführenden in jene weihevolle Gesinnung und Stim mung zu versetzen, die sich dann auch den Hörern mitteilt. F. Schweikert. „Schwarzwald-Bote“, den 20. Juli 1924. . . . Die musikalische Seele des Ganzen war Professor Otto Richter aus Dresden. Der weitbekannte Bachdirigent, der erfolgreichste Wegbereiter Bachs, der Leiter des berühmten Kreuzchors in Dresden, war bis vor kurzem in der musikalischen Öffentlichkeit Süddeutschlands noch ein völlig