„Süddeutsche Zeitung“ (Stuttgart), den 14. und 15. Juli 1924. Prof. Dr. Willibald Nagel. . . . Am Sonntag folgte die ungekürzte Aufführung der Matthäus- passion in der Einrichtung des Dirigenten Otto Richter. Was dieser her vorragende Künstler für das Stuttgarter Bachfest geleistet hat, wird kaum hoch genug eingeschätzt werden können. Richter ist einer der Männer und Künstler, die man im Sinne Richard Wagners deutsch heißen darf: die Sache gilt ihm über alles. Wie er an sich selbst die größten An forderungen stellt und, schwerer Krankheit und ihrer Folgeerscheinungen nicht achtend, selbst immer wieder und weiter schafft, so verlangt er ebenso selbstlose und unentwegte Hingabe an das Werk von seinen Mitarbeitern. Richter, von Haus aus mehr Chor- als Orchesterleiter, ist kein Pultvirtuose, kein Mann der Geste, des hohlen Effektes: sein Bach-Musizieren ist ihm ein Gottes- und ein Volksdienst. Wer das Werk Bachs den Massen er schließen will, muß wie Richter in das Werk zu tiefst eingedrungen sein, von seinem Geiste den belebenden Hauch für das eigne Kunstempfinden und -gestalten empfangen haben. Wenn die Stuttgarter Aufführung der Matthäuspassion unvergeßlich hohe Eindrücke schuf, so verdanken wir das in erster Linie Otto Richter, der von seinem Herzblut gab, daß das Wunderwerk so gelänge, wie es ihm in Kopf und Seele lebt . . . Mit dem Eßlinger Chor verband sich der Dresdner Kreuzchor, der, auf eine lange künstlerische Überlieferung zurückblickend, deren Geist unter Richters Leitung in schönster Weise aufrecht erhält . . . Alles wob sich zu einer höchsten harmonischen Einheit zusammen, die tadellos glatten und reinen Linienführungen in ihren quanti- und qualitativen Verhältnissen, die musterhaft abgestufte Dynamik als künstlerisch vollendeter Ausdruck seelischer Spannungen und Entspannungen, die Gliederungen, die Wort behandlung . . . Gern würde ich auf die vielen, zum Teil ungemein fesselnden Besonderheiten der Wiedergabe der Matthäuspassion durch Richter eingehen, aber Raum und Zeit gestatten es nicht. Ich fasse sie in dies summarische Urteil zusammen: Wir haben hier eine Passions aufführung, die ein so wundervolles, klanglich-logisches Stärkeverhältnis zwischen Chor und Orchester erkennen ließ, wie diese, die über den in herrlichster Plastik des ungemein reich abgestuften Ausdruckes erscheinenden Einzelmomenten das ganze Werk in vollendeter Einheit des Stiles zu sammenfaßte, meines Erinnerns noch nicht erlebt. Versehen sind vor gekommen, wie sie überall vorkommen, wo es sich um Menschenwerk