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WWKilU zn AWe« AmtUiiW Nr. 126. zu Nr. 84 dr- Hauptblatte-. 1932. Beauftragt mit der Herausgabe Regierungsrat Brauße in Dresden. Laudtassütrhandlunge«. 6«. Litzung. Dienstag, den ». Aebrnar 1933 Präsident Weckel eröffnet die Sitzung 18 Uhr 10 Minuten. Am Regierungstisch die Minister vr. Hedrich, vr Mannsfeld und Richter mit weiteren Regierungs vertretern. Auf Wunsch der Regierung wird zunächst die heutige Tagesordnung durch die Drucksache Nr. 766, Antrag zum mündlichen Bericht des Haushaltausschusses zur Vor lage Nr. 43 über die Übernahme einer Staats bürgschaft beim Zusammenschluß der säch- sischen Kraftwagenindustrie, erweitert. Dann wird ein Schreiben der Fraktion Säch sisches Landvolk verlesen, in dem mitgeteilt wird, daß sich die Fraktion Sächsisches Landvolk aufgelöst hat, djO Abgg. Schladebach, Vr. Troll, Haufe und Bauer zur Teutschnationalen Landtagsfraktion über getreten sind, der Abg. vr. Dankmeyer sich seine Entschließung Vorbehalten hat. Weiter wird ein Schreiben der Abgg. Kaiser und vr. Weber verlesen, in welchem diese mitteilen, daß sie von der Reichspartei des Deutschen Mittelstandes (Wirtschaftspärtei) zur Deutschnationalen BolkSpmtei übergetreten sind. Schließlich teilt die Fraktion der Wirtschaftspartei mit, daß sie Herrn vr. Wil Helnr zum Vorsitzenden der Fraktion gewählt hat. Hierauf wird in die Tagesordnung cingetreten. Punkt 1: Erste Beratung der Vortage Rr. 38 über den Geschäftsbericht der LandesbrandversicherungS. anstatt auf das Jahr 1939. Auf Vorschlag des Vorstandes wird die Vorlage Nr. 38 ohne Aussprache einstimmig dem Haushaltaus- schuß 8 überwiesen. Punkt 2: Beratung des Antrags des Abg. Arndt n. Gen. über die Reform der Sozialversicherung. (Drucksache Rr. 741). Der Antrag Nr. 741 lautet: Als Begleiterscheinung der Wirtschaftskrise und in folge der gesunkenen Wirtschaftsmoral gewisser Unter nehmerkreise hat die Hinterziehung von Sozialversiche rungsbeiträgen im letzten Jahre einen ungeheueren Um fang angenommen. Die Verluste, die den Sozialver sicherungsträgern dadurch entstanden sind, dürften in Sachsen allein einige Millionen Reichsmark betragen. Ta die Unterstützungsleistung in der Rentenversicherung nach der Zahl der tatsächlich abgeführten Beiträge bemessen wird und die Beitragshinterziehung sogar einen Ver lust der Anwartschaft zur Folge haben kann, werden dadurch auch die Rechte der Versicherten in der aller schwersten Weise gefährdet. Eine weitere Gefährdung erworbener Rechte ent steht den Versicherten bei langer Arbeitslosigkeit. Nach den Bestimmungen des Gesetzes über Arbeitsvermitt lung und Arbeitslosenversicherung haben die Arbeits ämter bei Arbeitslosen- und Krisenunterstützungs- cmpsängern sür die Aufrechterhaltung der Anwartschaft in der Invaliden-, Angestellten- und knappschastlichen Pensionsversicherung zu sorgen und die hierfür not wendigen Beiträge (Anerkennungsgebühr) zu zahlen. Die Gefährdung der Anwartschaft tritt aber bei den Wohlfahrtserwerbslosen in noch viel stärkerem Maße ein als bei den Alu- und Krn-Empfängern. Trotzdem lehnen es viele Wohlfahrtsämter ab, den ausgesteuerten Erwerbslosen die zur Aufrechterhaltung der Anwart schaft notwendigen Beitragsmarken zu kleben. Im Interesse der Versicherten und zum Zwecke einer besseren Beitragsbeitreibung beantragen wir daher, der Landtag wolle beschließen: die Regierung zu ersuchen: I. bei der Reichsregierung und dem Reichsrat darauf hinzuwirken, daß bei der angekündigten Reform der Sozialversicherung folgende Gesichtspunkte berücksichtigt werden: ») sür den Unterstütznngsanspruch in der Invaliden-, Angestellten- nnd knappschaftlicken Pensions versicherung soll bei Pflichtversicherten in erster Linie das versicherungspflichtige Bejchäftigungs- verhältnis, nicht aber die Tatsache der Beitrags leistung maßgebend sein. Aus der Hinterziehung von Beiirägen durch den Arbeitgeber dürfen den Versicherten keinerlei Nachteile erwachsen; d) die Beiträge in der Invalidenversicherung sollen nicht mehr durch Kleben von Beitragsmarken entrichtet, sondern durch die Krankenkassen ein gezogen werden; v) zur Erleichterung der BeitragSeinzrehung und zur Vermeidung der großen Nachteile, die den Versicherten jetzt au» der Überschneidung der Beitrag-klassen in den verschiedenen Bersiche- rung-zweiaen entstehen, sollen die Beitrags klassen und Grundlöhne in der Kranken- und in der Invalidenversicherung an die der Ar beitslosenversicherung angeglrchen werden; ü) für Arbeitslose, die aus Mitteln der Wohl- fahrtsfürforge unterstützt werden, sollen die Zeiten unfreiwilliger Arbeitslosigkeit auf die Anwartschaft angerechnet werden, ohne daß die Beiträge entrichtet zu werden brauchen H. die Regierung zu beauftragen: 1. den Gemeinden und Bezirksfürsorgeverbänden dringend zu empfehlen, bis zum Erlaß einer der Forderung unter lä entsprechenden reichs rechtlichen Bestimmung für die Wohlfahrtser werbslosen die Anwartschaft in der Invaliden-, Angestellten- und knappschastlichen Pensions versicherung in der gleichen Weise aufrechtzu- erhalten, wie es durch die Arbeitsämter für die Empfänger von Arbeitsl-sen- und Krisenunter- stützung geschieht; 2. die Staatsanwälte unter Darlegung des ge samten Umfanges der Beitragshinterziehung in der Sozialversicherung und der daraus für die Allgemeinheit erwachsenden schweren Wirtschaft- Uchen, sozialpolitischen und moralischen Schäden anzuweisen, gegen die Hinterziehung von Sozial »Versicherungsbeiträgen mit aller Schärfe vorzu gehen und die Oberstaatsanwälte auszufordern, gegen Gerichtsurteile, die der Sachlage nicht in genügendem Maße Rechnung tragen, Be rufung einzureichen. Ten Richtern ist hiervon durch Rundverfügung Kenntnis zu geben Hierzu liegen folgende Anträge vor: 1. ein Abänderungsantrag Siegert (Tnat.): Es wird beantragt, Punkt Io in folgender Fassung anzunehmen: Zur Vorbereitung einer grundsätzlichen Reform, zur Vereinfachung der Berwaltungsarbeit und zur Vermeidung von Nachteilen, die den Versicherten aus der Überschneidung der Beitragsklassen in den ver- schiedet,eir Versicherungszweigen entstehen, unter ein gehender Würdigung der finanziellen Auswirkung eine weitgehende Angleichung der Beitragsklassen m den einzelnen Versichcrungszweigen durchzuführen 2. ein Zusatzantrag Renner (Komm): Ter Landtag wolle beschließen: unter II. des Antrags Drucksache Nr. 741 einen neuen Abs. 3 anzufügen: 3. dem Landtag eure Übersicht darüber zugehen zu lassen, wie hoch die Summe der von den Unter nehmern nicht abs.esührten Versicherungsbeiträge ist. Die Angaben sollen sich erstrecken auf alle an fallenden Bersicherungszweige, und zwar dergestalt, daß die- Summen untergeteilt werden nach den einzelnen Versicherungsarten. Es ist der Zeitraum von 2 Jahren zugrunde zu legen. Abg. Arndt (Coz. — zur Begründung): Tie Sozial versicherungsträger sind durch die Wirtschaftskrise in außer ordentlich ernste finanzielle Schwierigkeiten geraten. In der Invalidenversicherung betragen die Bertragseinnahmen gegenüber dem Jahre 1928 etwa 325 Millionen weniger Allein in der Landesversicherungsanstalt Sachsen sind die Beitragseinnahmen seit 1928 von 112>H Millionen auf 79 Millionen, also um 33^ Millionen "zurückgegangen. In der Angestelltenversicherung wird der Beitragsrück gang vielleicht den gleichen Umfang haben. In der Krankenversicherung ist er sicherlich noch höher, denn hier spielt ja auch der Abbau durch die Notverordnungen noch eine Rolle. Zu diesem Beitragsrückgang kommen aber noch Ein- nahmeaussälle durch uneinbringliche Beitragsrückstände. Tie Landesversicherungsanstalt Sacvsen gibt in einem vorläufigen Geschäftsbericht an, daß durch ihre Kontroll organe im Jahre 1931 3264811 M Beitragsrückstände festgestellt worden sind (Lebhaftes Hört, Hörl ! b. d. Soz. u. Komm ), von denen 2430000 M vorläufig nicht bei treibbar sind. (Hört, hört! b. d. Komm.) Tie tatsäch lichen Beitragsrückstände sind aber sicherlich doppelt, vielleicht sogar dreimal so hoch, denn die Kontrolle hat sich ja nur auf 605000 Quittungskarten erstreckt, während die Zahl der Versicherten etwa 1^ Million betragen dürfte. Bei den Krankenkassen fehlt uns zwar eine vergleichende Statistik, denn von den 800 kleinen Krankenkassen, die wir leider in Sachsen noch haben, kümmern sich eben sehr viele, be sonders kleine Betriebs- und Jnnungskrankenkassen, über haupt nicht um die Hereinholung der Beitragsrückstände, jedenfalls berichten sie darüber nichts. Tie Ortskranken kasse Dresden berichtet für das Jahr 1930 allein Bei tragsrückstände in 38000 Fällen in Höhe von rund 2l/,Mill. M In etwa 4000 Fällen sind in dieser einen Ortskrankenkasse, die etwa nur aller Versicherten umfaßt, Zwangsmaßnahmen erfolglos gewesen. Aus diesen Zahlen, die natürlich nur kleine Beispiele sein können, ist, glaube ich, allein schon der Umfang dieser Beitragshinterziehung ersichtlich. Diese B iirags- hinterziehungen -eigen, wie leichtfertig und gewissenlos viele Arbeitgeber die Rechtsansprüche ihrer Arbeiter und Angestellten aufs Spiel letzen. Bei dielen Beitrags hinterziehungen handelt es sich auch um B'ilräge, die den Arbeitnehmern bereits vom Lohne abgezogen, die aber noch nicht abgeführt, sondern für persönliche oder betriebliche Zwecke verwendet worden sind. Das ist doch glatte Unterschlagung. (Lebhaftes Sehr richtig k b. d. Soz. u. Komm.) In der Renten-, Invaliden-, Angestellten- und knappschastlichen Pensionsversicherung hängt bekanntlich der Rentenanspruch von der Zahl der geklebten Marten ab. Ein bereits erworbener Unterstützungsanspruch er lischt, wenn nicht in einer bestimmten Zeit eine be stimmte Anzahl von Marken geklebt sind. Wenn der Arbeitgeber keine Marken klebt, obwohl er die Beiträge dem Arbeitnehmer abgezogen hat, können dem Arbeit nehmer bereits erworbene Ansprüche gänzlich verloren gehen, oder er erleidet ganz empfindliche Nachteile hin sichtlich der Höhe der Versicherungsleistungen In der Praxis liegt es aber so, daß der Arbeiter meist erst dann die Beitragshinterziehung entdeckt, wenn er ent lassen wird Tann nützen ihm, wenn der Arbeitgeber in zwischen Konkurs gemacht oder den Offenbarungseid geleistet hat, oder wenn Pfändung erfolglos war, natürlich auch keine gerichtlichen Maßnahmen mehr. Wenn man bloß den vollständigen Beitragsverlust innerhalb der In validenversicherung in Sachsen auf 1 Mill, anmmmr — ich glaube, die Summe ist außerordentlich gering ge griffen —, dann ergibt fich für die davon betroffenen Versicherten ein Nachteil von etwa 200000 M pro Jahr beim Rentenbezug. Das Gesetz gibt nun zwar den Bersicherungsträgern die Möglichkeit, gegen Beitragshinterziehung durch Zwangsmaßnahmen, durch Bestrafungen und Straf anzeige vorzugehen. Wenn aber nichts zu holen ist, sind sowohl die Versicherung als auch die Versicherten die Geschädigten. Wrll man die Versicherten schützen, dann kann es nur dadurch geschehen, baß die Grundlage des Rentenanspruchs radikal umgestellt wird, so, wie wir es in la unseres Antrags fordern. Bei einer solchen Umstellung der Grundlagen des Versick erungs- an'pruchs kann dann dem Arbeitnehmer aus Beitrags- Hinterziehung des Arbeitgebers kein Nachteil mehr er wachsen. In der Krankenversicherung und in der Arbeits losenversicherung ist ja auch jetzt schon die versicherungs- pfl'chtige Beschäftigung die Grundlage des Versicherungs- anspruchs. Tie Bedenken technischer Art, die vielfach geltend gemacht werden, sind also nach meinem Tafür- halten nicht stichhaltig. Was unseren Antrag unter-4K anlangt, so ist das Kleben der Marken in der Zeit des bargeldlosen Ver kehrs sicherlich an sich schon eine vorsintflutliche Ein richtung. Tie Krankenkassen aber verfügen im all gemeinen über einen guten Einzugsapparat; sie sind ja auch aber heute die Einzugsstellcn für die Arbeitslosen versicherung. Unser Antrag Io dient einmal der reibungslosen Beitragseinziehung durch die Kranken« küssen, zum andern soll dadurch die Überschneidung der Beitragsklassen, durch die der Arbeitslose oft um eine, manchmal sogar um zwei Lohnklassen geschädigt wird, abgestellt werden. Tie Bertchiedenarngkeit der Lohn- und Beitragsklassen in der Sozialversicherung hat auch große Unannehmlichkeiten für die Betriebe und bringt eine Fülle unnötiger Arbeit ml sich. Für Arbeitgeber und Arbeitnehmer wäre es deshalb sicherlich das ein jachste, wenn in den drei Zweigen der Sozialversiche rung, in der Arbeitslosen-, in der Kranken- und in der Invaliden- bzw Angeftelltenverficherung die Beitrags klassen aufeinander abgestimmt würden. Jetzt ist zur Feststellung des Unterstützungsanspruchs ein außerordent lich kompliziertes Rechenwerk notwendig Tie Anrechnung der Zeiten unfreiwilliger Arbeits losigkeit — Ick unseres Antrags — denken wir uns etwa so, wie es jetzt schon im Falle der Krankheit oder im Falle militärischer Dienstleistung der Fall ist. Tie heu tige Regelung sieht vor, daß die Reichsanstalt für Arbeits losenversicherung bei den Arbeitslosen, die aus Ber- sicherungsmitteln oder aus der Krisenfürsorge unterstützt werden, die Anwartschaft aufreckiterbält und die dazu notwendigen Beüräge kleben muß. Tie Wohlfahrtser werbslosen hängen aber in dieser Hinsicht vollständig in der Luft Bei denen kommt es darauf an, ob die Ge meinde ihnen die Mittel zur Aufrechterhaltung der An« wart'ckaft, also zum Kleben der hierzu noi wendigen Marken gibt Viele Gemeinden tun es — sie tun e» auch in Erkenntnis des großen Interesses, das die Ge meinde selbst daran haben muß —, aber eine große Zahl von Gemeinden tut es eben nicht, denn es erwächst ihnen daraus eine immerhin erhebliche Belastung. Tie Stadt Dresden hat hierfür jetzt allein ungefähr 20000 RM auf zubringen. Tas ist aber nicht zu viel im Hinblick auf die Wichtigkeit und Bedeutung des Zwecks. Aber da die Gemeinden jetzt ja alle Mittel zusammenkratzen müssen, um die Unterstützung für die Erwerbsloten bezahlen zu können, muß man nach Mitteln und Wegen suchen, um sie auch von dieser Last zu befreien, und dazu gibt eS einen Weg, den wir in unserem Antrag unter II 1 an gedeutet haben. Wir sind uns Nar darüber, daß die von unS vorge- schlagcnen Änderungen nur durch die Änderung der rcichsrecbtlichen Gesetzgebung erfolgen können. Dazu ,st aber gerade jetzt die beste Gelegenheit, denn es ist ja nicht unbekannt, daß sich die Reichsregierung mit einer sogenannten Reform der Sozialversicherung, insbesondere der Remenvetsicherung trägt. Diese Reform wird z>var weiter nichts sein als eine Sanierung in finanzieller Hin sicht auf Ko en der Versicherten. In sozialpolitischer Hinsicht wird sie wahrscheinlich wieder das Gegenteil einer Reform sein. Um so mehr muß aver Anlaß dafür bestehen, daß die sozialpolitischen Mängel, die m der In validen-, in der Angestellten- und in der knappschastlichen Pensionsversicherung heute noch vorhanden sind, beseitigt