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LMKilW M AWm AmtzeitW Nr. 226. zu Nr. 49 des Hauptblattes.. 1929. Beauftragt mit der Herausgabe Regierungsrat Braube in Dresden. LandtagsderhaMMge». 198. Sitzung. Dienstag, den 2«. Februar 1929. Stellv. Präsident vr. Eckardt eröffnet die Sitzung um 13 Uhr 5 Minuten. Am Regierungstische die Minister vr. Bünger, Elsner, vr. v. Fumetti und Weber, sowie Re gierungsvertreter. Es werden zunächst die Punkte 9—11 der Tages- ordnung der letzten Sitzung als Punkte 1—3 behandelt und in der Aussprache verbunden. Punkt 1: Erste Beratung über den Antrag des Abg. Böttcher u. Gen. wegen Ergreifung von Maß nahmen zur Sicherung von Leben und Gesundheit der Bergarbeiter. (Drucksache Str. 1988.) Der Antrag Nr. 1088 lautet: Die Unfallziffern im Bergbau zeigen eine weiter steigende Tendenz. Die Ursachen liegen zum Teil in der Technisierung der Betriebe, zum überwiegenden Teil aber in der Außerachtlassung bergpolizeilicher Vorschriften und im Prämiensystem Da die Prämie einen wesentlichen Teil des Gehaltes auch der Gruben beamten darstellt und fast jede Gehaltserhöhung durch die Grubenbesitzer abgelehnt wird, sind die Beamten gezwungen, ihr Einkommen durch Erzielung höherer Prämien zu steigern. Diese Tatsache führt zu den Antreibermethoden der Beamten und damit zur Steigerung der Unfallgefahren. Alle Verbote des Prämtensystems oder Versuche dazu haben kein greifbares Resultat gezeigt. Zum Schutze von Leben und Gesundheit der Bergarbeiter sind deshalb andere Maßnahmen not wendig. Der Landtag wolle deshalb beschließen: die Regierung zu beauftragen: 1. Das technische Grubenpersonal wird vom Staate übernommen und den Bergämtern unterstellt. 2. Das Bergamt bestellt unter Mitwirkung des Bc- UüebsrateLdte für das Werk nötigen Beamten und nimmt auf Verlangen des Betriebsrates ihre Abberufung vor. 3. Die Werke erstatten dem Bergamt die Unkosten für die Übernahme, Besoldung und Versicherung des technischen Grubenpersonals. Abg. Schreiber (Oberwürschnitz) (Oppos. Komm. — zur Begründung): Gegenwärtig wird in Deutschland wieder einmal ein großer Rummel für die Sicherheit der Arbeiterschaft zur Verhütung von Unfällen durch- geführt. Die bekannte Reichsunfallverhütungswoche soll den Zweck haben, die Allgemeinheit auf das Steigen der Unfallziffern in Deutschland aufmerksam zu machen. Dabei wird in den Vordergrund geschoben, daß die jetzigen Unfallziffern nicht allein darauf zurückzuführen seien, daß in der Industrie durch die gesteigerte Aus beutung, die Rationalisierung, die Unfallziffern gestiegen sind, sondern es wird gesagt, daß die Mehrzahl der U«- fälle auf die Unachtsamkeit der Bevölkerung zurück zuführen sei, und daß dadurch ein Steigen der Unfall- Ziffern herbeigesührt werde. Hier erkennt man den Charakter der Reichsunfallverhütungswoche, die nicht etwa zum Ausdruck bringt, daß die steigende Zahl von Unfällen und Erkrankungen der Arbeiter ganz besonders in den Jndustriebezirken zurückzuführen ist auf die Technisierung, die Ausbeutung und Antreiberei, sondern daß sie auf irgendwelche andere Ursachen zurückzuführen ist. Dadurch wird natürlich die ReichSunfallverhütungs- woche ihren Zweck völlig verfehlen. Die Reichsunfall verhütungswoche soll den Zweck haben, nicht auf die Ursachen der gesteigerten Unfallziffer hinzuweisen, sondern davon abzulenken. Ein ganz besonderes Gebiet und eine ganz besondere Industrie, wo die Unfallziffern gestiegen sind, ist der deutsche Bergbau. Die Zahlen darüber sprechen Bände. Es ist nicht das erstemal, daß im sächsischen Landtag über die steigenden Unfallziffern im Bergbau in Deutsch land gesprochen wird. Aber bei allen früheren Aus sprachen hat die Regierung oder haben die verantwort lichen Stellen versucht, über die wirklichen Ursachen der steigenden Unfallziffern hinwegzutäuschen. Ich will einige Zahlen über da- Steigen der Unfallziffern in den letzten Jahren nennen. 1924 hatten wir im sächsi schen Bergban 6432 Unfälle,- sie stiegen im Jahre 1927 ruf 8631. Die Krankheitsfälle auf einen Mann sind von 0,72 im Jahre 1924 auf 1,16 im Jahre 1927 gestiegen. 1924 hatten wir eine Belegschaft von 45334 Berg- arbeiten,; diese Ziffer ist auf 33198 im Jahre 1927 zurückgegangen. Also Verminderung der Belegschafts ziffer, Steigerung der Erkrankungen, Steigerung der Unfallziffern, das ist die Tendenz, die wir im sächsi schen Bergbau und damit natürlich auch im ganzen deutschen Bergbau vor uns sehen. Der Steigerung der Unfallziffern liegen verschiedene Dinge zugrunde. In erster Linie die Verlängerung der Arbeitszeit, dann die modernen Abbaumethoden. Durch den ungeheuren Lärm, den jetzt im Grubenbetriebe dieBerwendungvonSchüttelrutschen.vonAbbauhämmern, Bohrhämmern,Quickhämmern, Bergversatzmaschinen usw. mit sich bringt, ist e- natürlich nicht mehr möglich, die ganze Aufmerksamkeit der SinneSorganne der Arbeiter- schäft auf die Verhinderung der Unfallmöglichkeiten zu kan^e- trieren. Dadurch steigern sich die Unfälle. Das äugert sich auch in der Steigerung der Jnvaüden- ziffer im Bergbau. Hatten wir im Jahre 1924 einen Invaliden auf 4,22 Mitglieder im Bergbau, so ist diese Ziffer am 1. August 1928 auf 2,93 gesunken. Damit hängt eng zusammen die gesteigerte Antreibung und die gesteigerte Leistung im deutschen Bergbau. Der Herr Abg. Lippe wird ja nachher mit Zahlen nach zuweisen versuchen, daß im Bergbau die Leistung pro Kopf der Belegschaft gegenüber der Vorkriegszeit noch nicht erreicht worden ist. (Zuruf d. Abg. Lippe.) Aber alle diese Statistiken, die von feiten der Unternehmer bisher vorgetragen worden sind, beruhen auf dem Irrtum, daß die Berechnung der Leistungsziffer pro Kopf der Belegschaft heute auf einer anderen Basis erfolgt als in der Vorkriegszeit. Müssen wir doch feststellen, daß die sogenannten unproduktiven Kräfte, das heißt sogar die Dienstmädchen für die Direktoren, die Verwaltungs- beamten im Bergbau usw. heute bei der Berechnung der Leistung pro Kopf der Belegschaft mit hineingezogen werden und daß naturnotwendig dadurch die Leistungs ziffer pro Kopf der Belegschaft zurückgehen muß. Wenn wir uns aber die tatsächliche Leistung des Einzelnen, den Anteil des einzelnen Arbeiters an der Förderung im Bergbau ansehen, müssen wir feststellen, daß die Leistungen der Vorkriegszeit erreicht worden sind. Hinzu kommt, daß durch den Raubbau, der während des Krieges und der Inflation im Bergbau betrieben worden ist, die Ergiebigkeit der Gruben naturnotwendig uachläßt und daß das eine der wichtigsten Ursachen mit ist, die eine Steigerung in der Leistung pro Kopf der Belegschaft gegenüber der Vorkriegszeit noch nicht zu gelassen hat. Aber das eine steht fest, daß die Ausbeutung und Anspannung des einzelnen Arbeiters gegenüber der Vorkriegszeit bedeutend gestiegen ist. Eins der Mittel dazu, die Arbeiterschaft anzutreiben und auszubeuten, ist das sogenannte Nrämiensystem, das nicht nur unter der Arbeiterschaft seine Folgen hat, sondern ein Prämicn- system, in das zugleich auch die Beamten mit hinein» gezogen sind. Vor den großen modernen Abbau- und Schüttelrutschonörtern liegen die Dinge heute so, daß auf 30—40 Mann Belegschaft in der Grube heute ein Beamter kommt. Wo früher der Beamte ein ganzes Revier zu betreuen hatte, sitzt heute der Beamte, der Steiger, Oberhäuer, Schüttelrutschenmeister usw., in der letzten Zeit ununterbrochen vor Ort, so daß die Belegschaft unter ständiger Aufsicht stehl und unter dieser Aufsicht natürlich fortgesetzt angetrieben wird. Mir sind Dinge bekannt geworden, daß die vor den Ortern tätigen Aufsichtspersonen sogar sich dazu verleiten lassen, durch persönliche Maßnahmen gegenüber den Belegschaften die Antreiberei zu steigern. Mit den schlimmsten Schimpfwörtern treiben die technischen Grubenbeamten die Bergarbeiterschast an. Das Prämiensystem wird nicht allein bei der Arbeiter schaft angewendet, sondern auch bei deu Beamten. Dabei ist der untere Beamte von den oberen Beamten abhängig. Je mehr der untere Beamte in der Lage ist, die Förderung zu steigern, nm so mehr erhöht sich sein Einkommen. Dieses Prämiensystem ist das größte Übel, das wir im Bergbau zu verzeichnen haben. Da durch sind die Unfallziffern ins Grundlose gestiegen. Dazu noch die gesteigerte Konkurrenz im Bergbau auf dem Weltmärkte! Diese Dinge sind die Ursachen, wes halb die Unfallziffern steigen, denn der Profit soll natürlich weiter bleiben, und der Profit kann nur weiter bleiben (Abg. Lippe: Wenn er nur erst einmal da wäre!), wenn die Arbeiterschaft noch mehr aus gebeutet wird. Aber dessen ungeachtet ist es notwendig, gegenüber dem Profitinteresse der Kapitalisten die Lebensexistenz der Arbeiterschaft in den Vordergrund zu stellen. Sie jammern bei jeder Gelegenheit, daß Sie im Bergbau keine, Leute mehr bekommen, daß es notwendig ist, trotz der ungeheuren Arbeitslosigkeit in Deutschland Tausende und aber Tausende von Arbeitern für den Bergbau in Deutschland aus dem Auslande herein zuholen. Der'reinste Sklavenhandel wird getrieben, um die Bergbaubetriebe weiter aufrechtzuerhalten. Die Ursachen liegen daran, daß man eben natürlich niemand zumuten kann, unter den heutigen Verhält nissen im sächsischen Bergbau zu arbeiten. (Sehr richtig! b. d. Oppos. Komm.) Täglich werden einige Mann im Bergbau totgeschlagen, die Zahl der Krüppel wird jeden Tag größer, denn im Kohlengebiet vergeht kein Tag, keine Schicht, wo das Krankenauto nicht die verstümmelten Bergarbeiter in die Krankenhäuser trans portieren muß, vergeht kein Tag, wo es im Bergbau nicht Tote gibt. Wenn Sie das verantworten zn können glauben, so machen Sie ruhig auf die,em Wege weiter, die Bergarbeiterschaft wird sich ihren Bers darauf machen. Ich glaube aber, es ist notwendig, das doch zu ver hindern. Eine wesentliche Rolle spielt hierbei die An- treiberei. Die könnte sofort beseitigt werden, wenn ein Dualismus, der im Bergbau vorhanden ist, beseitigt wird. Der Bergbauindustriearbeiter-Verband schlägt vor, daß die technischen Grubenbeamten nicht mehr Privateigentum der Grubenkapitalisten sind und als Ausbeutungswerkzeuge gegenüber den Arbeitern ver- wendet werden, sondern daß die Aufsichtsbeamten des Staates Polizetbeamte des StaateS gegen die Ausbeu- tung und gegen die Nichtachtung der UnfallverhütunaS- vorschriftxn im Bergbau werden sollen. Ich glaube. wenn die technischen Grubenbeamten kein Interesse mehr daran haben, ihr Einkommen durch Prämien zu steigern, die sie nur erreichen können, wenn sie eine ungeheure Ausbeutung der Arbeiter unter Außeracht lassung der Betriebsvorschriften und der Unfallver hütungsvorschriften durchführen, dann kann ein wesent licher Teil der Unfälle verhütet werden. Wenn jetzt in der Reichsunfallwoche in den Vorder grund gestellt wird, daß die Mehrzahl der Unfälle durch bessere Beachtung der bestehenden Vorschriften verhindert werden kann, dann trifft das in erster Linie auf den Bergbau zu. Das sehen wir auch aus dem Berichte des Oberberg amtes, wonach fast bei 99 Proz. der Unfälle yesagt wird: durch eigenes Verschulden. Das mag richtig sein, aber wenn der Arbeiter' sein bestimmtes Soll in der Schicht erreichen will, kann er nicht den größten Teil dieser Schicht auf die Anwendung der Unfallverhütungs vorschriften verwenden. Aus diesem Grunde werden alle die Dinge unterlassen, das Absteifen, das Bauen, das Sichern der Strecke usw., es heißt einfach, es wird schon noch gehen, wir werden heute schon noch ver kommen, und dabei passieren natürlich die meisten Unfälle. Wenn heute die technischen Grubenbeamten wirklich nur als Aufsichtsbehörde im Betriebe fungieren und wirklich hinterher sind, daß in erster Linie ver hindert wird, daß die Unfallveihütungsvorschriften um gangen werden, dann, der Überzeugung bin ich, werden diese monotonen Berichte aus den Bergamtsberichten verschwinden, daß die Mehrzahl der Unfälle durch eigenes Verschulden zustande kommt. Deshalb haben wir den Antrag eingebracht. Ich habe nicht die Überzeugung, daß sich hier im sächsischen Landtag eine Mehrheit für die Durchführung unseres Antrages findet, aber es wäre eine sträfliche Unter lassungssünde, wenn der sächsische Landtag nicht dazu Stellung nehmen würde. Ich möchte deshalb bitten, bei der Beratung im Haushaltausschuß R alle die Gründe, die für diese Maßnahmen sprechen, zu be rücksichtigen, damit der Mord im Bergbau und die steigenden Unfallziffern im Bergbau wenigstens um einiges vermindert werden. Punkt 2 und 3: 2. Erste Beratung über den Antrag des Abg. Renner «. Gen., de« AnSbau der Gewerbeaufsichtsämter be treffend. (Drucksache Rr. 1119.) 3. Erste Beratung über den Antrag des Abg. Renner n. Gen. auf Herabsetzung der Altersgrenze bei der Invalidenversicherung vom 65. anf das 59. Jahr. (Drucksache Rr. 1199.) Der Antrag Nr. 1110 lautet: Durch Rationalisierung, erhöhte Ausbeutung und Antreibersystem ist die Nnfallziffer in fast allen Berufen gewaltig gestiegen. Die Gewerbeaufsichtsämterkommen ihren Aufgaben, die Gewerbebetriebe zu kontrollieren, nur in ganz beschränktem Umfange nach. Bei den zur Anzahl der vorhandenen Betriebe geringen Kon trollen ist in jedem Falle der Unternehmer vorher informiert, so daß er imstande ist, bestehende Mängel im Betrieb vorübergehend abzustellen. Der Landtag wolle deshalb beschließen: die Negierung zu ersuchen, die Gewerbeaufsichts ämter so auszubaucn, daß diese in bedeutend höherem Maße Betriebskontrollen unter Hinzuziehung von Betriebsvertretungen, und zwar unangemeldet, durchführen können. Der Antrag Nr. 1109 lautet: Die in den letzten Jahren durchgeführte Ratio- ualisieruug der Industrie, deren Folgen erhöhte Aus beutung der Arbeiter ist, brachte mit sich, daß die Erwerbsfähigkeit der Arbeiter frühzeitig vernichtet wird. Das Antreibersystem, die Technisierung und Motorisierung der Arbeiter zerstört bereits nach wenig Jahren betrieblicher Tätigkeit die Arbeitskraft. Weiter werden durch die Rationalisierung in steigen dem Maße Arbeiter vom Produktionsprozeß aus gestoßen und finden — wenn sie das 40. Lebensjahr überschritten haben — keine anderweite Beschäfti gung mehr. Die frühzeitige Erwerbsunfähigkeit und die zu nehmende Erwerbslosenarmee macht es zur ge bieterischen Notwendigkeit, die Altersgrenze für den Anspruch auf Altersrente bedeutend herabzusetzen. Der Landtag wolle deshalb beschließen: die Negierung zu ersuchen, bei der Reichsregierung dahin gehend zu wirken, daß die Altersgrenze der Invalidenversicherung von 65 auf 5V Jahre herab gesetzt wird. Abg. Scheffler (Komm. — zur Begründung): Auch wir sind der Meinung, daß die Unfallsteigerung eine Ursache der ungeheuren Ausbeutung der Arbeiter in den Betrieben ist. Die Betriebe in der Metallindustrie, in der Fertigindustrie bauen fast periodenweise die Akkordlöhne ab und zwingen die Arbeiterinnen und Arbeiter, die dort an den Maschinen arbeiten, in einem erhöhten Tempo zu arbeiten, und es wäre verbrecherisch, der Arbeiterklasse zu sagen, sie soll an den Stanzen, den Pressen und Maschinen besser aufpassen, um die Unfälle zu verhindern. Viele Arbeiter in der Textil industrie müssen durch die ungeheure Ausbeutung und Antreiberei, wie sie da- fließende Band mit sich bringt, so arbeiten, daß ihnen bereit» nach wenigen Stunden