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DIE MALEREI DES MANIERISMUS UND BAROCK IN ITALIEN Seit dem 13. Jahrhundert hatte im Leben, Fühlen und Denken der euro päischen Menschheit ein bedeutungsvoller Wandlungsprozeß begonnen, in dessen Verlauf an die Stelle der internationalen Einheitskultur des Mittel alters die Vielfältigkeit völkischer Sonderentwicklungen, an die Stelle eines weltflüchtigen Kirchengehorsams eine wachsende Anteilnahme an irdischen Dingen trat. Diese Bewegung hatte an Kraft und Bedeutung allmählich zu genommen und im ersten Viertel'des 16. Jahrhunderts, um 1515/25, war es so weit, daß es unausweichlich zum Zusammenprall der Gegensätze und zu politischen und weltanschaulichen Neubildungen kommen mußte. Ein Ergebnis dieser Auseinandersetzungen war die Auflösung der Univer salmacht der katholischen Kirche, ein Vorgang, der durch die Verwelt lichung des Papsttums, im besonderen durch die weltlichen Ansprüche der Renaissancepäpste auf ein eigenes politisches Herrschaftsgebiet, den Kir chenstaat, noch beschleunigt wurde. Das andere, nicht minder wichtige Ergebnis dieser Kämpfe war die Bildung der europäischen Nationalstaaten. Das jahrhundertelange Ringen um die Vorherrschaft in Europa hatte sich 1519 durch die Kaiserwahl Karls V. vorläufig zugunsten der habsburgischen Macht entschieden, die in ihrem neuen Weltreich jetzt das spanische König reich Karls mit Sardinien, Sizilien, Neapel und den überseeischen Besitzun gen, die österreichischen Länder mit dem burgundischen Erbe und den Nie derlanden sowie das Herzogtum Mailand umfaßte und dazu die Kaiser gewalt in Deutschland ausübte. Die ganze europäische Politik der Folgezeit steht im Zeichen des Wettkampfes der übrigen Großmächte mit dem Hause Habsburg, das nach dem Regierungsverzicht Karls 1556 wieder in die spa nische und die österreichische Linie auseinanderfallt und am Ende des hier behandelten Zeitraums, um 1700, nur noch das vielgespaltene und ge schwächte Deutsche Reich beherrscht. Spaniens Übermacht wird noch am Ende des 16. Jahrhunderts durch die aufsteigende koloniale Weltmacht England zerbrochen, Frankreichs Wiederaufstieg beginnt im 17. Jahrhun dert auf Kosten Deutschlands, das sich im dreißigjährigen Religionskrieg zerfleischt, während in den nördlichen Niederlanden, als sie sich vom spa nischen Joch befreit hatten, ein selbständiges nationales Staatswesen entsteht. Von Italien, das zunächst den Kriegsschauplatz abgeben und 1527 sogar eine Erstürmung und Plünderung Roms durch spanische und deutsche Landsknechte erdulden mußte, gehörte während des 16. und 17. Jahrhun derts der größere Teil zur spanischen Krone, nämlich das Königreich Neapel (also ganz Unteritalien), Sizilien, Sardinien und seit 1556 auch das vielum- kämpfte Herzogtum Mailand. Neben den beiden bedeutendsten unabhän gigen Staatengebilden Italiens, dem päpstlichen Kirchenstaat und der Re publik Venedig, bewahrten das Herzogtum Toskana, ferner die Republik Genua mit Korsika und das Herzogtum Savoyen sowie einige kleinere Staatswesen ihre äußere Selbständigkeit, in Wahrheit freilich von Spaniens Gnaden. Diese geographischen Abgrenzungen und die politische Geschichte sind nicht Unwichtig für das Verständnis der Entwicklung der Kunst in allen europäischen Ländern, denn die nationalen Kämpfe wecken die seelischen Kräfte der Nationen zu neuen künstlerischen Aufgaben. Stärker noch wirken auf das Kunstleben Europas die Ereignisse der Religions- und Kirchengeschichte ein, die zur Reformation Luthers, Zwinglis und Cal vins und danach zur katholischen Gegenreformation führen und schließlich die gesamte geistige Kultur der europäischen Menschheit umbilden. Was sich auf diesem Gebiet schon seit dem 13. Jahrhundert vollzieht, hängt untrenn bar mit den Geschehnissen der großen Politik zusammen. Im gleichen Maße, wie in den Völkern das Nationalbewußtsein wächst, bildet sich im einzelnen Menschen eine neue Einstellung zu Gott und Welt. Die Mensch heit beginnt sich aus dem Bann kirchlicher Bevormundung zu lösen und immer mehr den weltlichen Dingen zuzuwenden. An die Stelle des mittel alterlichen Jenseitsverlangens mit der glaubensstarken Innigkeit der Gottes- und Heiligenverehrung, mit seiner Sündenangst und seiner Verdammung der „Fleischeslust“ tritt ein ungestümes Drängen nach rücksichtslosem Lebensgenuß, das sich bejahend im tätigen Wirken auf Erden und in den Äußerungen bürgerlicher Tugenden im Staate geltend macht. Vor allem der italienische Mensch, dem das Körperlich-Sinnliche, das diesseitige Ver langen nach äußerer Ungebundenheit im Blute steckt, mehr als dem wesent lich nach innerer Freiheit strebenden Nordländer, bricht schneller und gründlicher als andere mit den seiner Natur widerstreitenden Forderungen der christlich-mittelalterlichen Sittlichkeit. Er sieht seine geschichtliche Ver gangenheit, das Römertum, durch das im Norden ausgebaute christliche Lehrgebäude des Mittelalters verdunkelt, und seine Wiedergeburt im gol denen Zeitalter der Renaissance, die ihm jetzt die kulturelle Vormachtstel lung in Europa verschafft, erfolgt im steten Rückblick auf die Größe und auf die Ideale der Antike, die ihm heroisches Leben und Leben in Schön heit bedeutet. Der neue Drang nach wissenschaftlicher Erkenntnis, der das Renaissance-Zeitalter kennzeichnet, erhält bei ihm Rechtfertigung und Unterstützung durch die wiederbelebten antiken Wissenschaften. Dieser Drang erschüttert hier wie im Norden das von der Kirchenlehre ausge gangene wissenschaftliche System der Scholastik und erzeugt in den großen Geistern ein Suchen nach einem neuen System aus eigner Erfahrung. Das alles wird anders, sobald die niemals ganz verstummten Kreise, denen die Übertreibung des Persönlichkeitskultes, die Verrohung der Sitten, die Verweltlichung der Kirche und die Zunahme der „Ketzerei“ immer an stößig waren, an Einfluß gewinnen. Fast zu der gleichen Zeit, in der Luther die Deutschen zu neuer Religiosität aufrief, trat eine ähnliche Bewegung auch im italienischen Volk und in seiner geistigen Führerschicht deutlich hervor. Immer lauter erscholl der Ruf ihrer Anhänger nach innerer Umkehr, sittlicher Läuterung, nach Reform der Kirche und ihrer Glieder und nach Reinigung ihrer Lehre, und trotz des Widerstandes des noch ganz renaissance- haft weltlich gerichteten Papsttums schickte sich eine neue kirchliche Ge sinnung an, das Gesicht des Zeitalters gründlich zu verändern. Schon seit dem Lateranischen Konzil (1512-1517) ist allenthalben in den Werken der bildenden Kunst, vornehmlich in der allen Gefühlswandlungen immer rasch folgenden Malerei, die neubelebte Kirchlichkeit sichtbar geworden. Jetzt erhalten die Madonnen, die die Renaissance mit aller irdischen Schönheit ausgestattet hatte, wieder die unnahbare Hoheit, die ihnen das Mittelalter verliehen hatte, jetzt bekommen die Heiligen wieder wie in alten Zeiten ihre Glorienscheine oder werden dadurch, daß sie im Bildaufbau hoch über die Menschen ragen, als übermenschliche Wesen charakterisiert, und in den Darstellungen der „Santa Conversazione“ (des „heiligen Beisammen seins“ um die majestätisch thronende Maria) weisen sie mit eindringlichen Gebärden auf die Gottesmutter, um die Abtrünnigen und Wankenden in den Schoß der allein seligmachenden Kirche zurückzuführen. Es mehren sich nun die Darstellungen von Wundertaten, Visionen und Märtyrer szenen, die das vorbildliche Leben, Dulden und Sterben der Heiligen schil dern. Eine mittelalterliche, weltflüchtige, jenseitsverlangende Gesinnung, die die Kirche alsbald klug zu nutzen versteht, erfaßt wiederum die Men schen, die in Massen den neugegründeten geistlichen Orden zuströmen. Das Papsttum beginnt sich von dem Schrecken, den ihm der Abfall im Nor den eingejagt hatte, zu erholen und den Gegenstoß vorzubereiten. Die Ver söhnungsversuche mit dem Protestantismus werden aufgegeben, als man er kennt, daß ein Ausgleich nicht mehr möglich ist. Eine strengere Richtung in der Kirche nimmt die Leitung in die Hand, und die Bewegung zeigt jetzt ein doppeltes Antlitz, das der Gegenreform, der Säuberung der eigenen Reihen, und das der Gegenreformation, des fanatischen Kampfes gegen die Abtrünnigen, die „Ketzer“. Der baskische Edelmann Ignatius von Loyola (1491-1556), der 1521, also auch in den entscheidenden Jahren, von denen wir eingangs gesprochen haben, seine innere Wandlung erlebt, gründet 1534 den Jesuitenorden, der, 1540 von Papst Paul III. bestätigt, das wirksamste Instrument der Gegenreformation wird. 1542 erneuert der spätere Papst Paul IV. die Inquisition, die furchtbarste Waffe der kämpfenden Kirche, 1543 wird die Druckzensur eingeführt, 1545 das Tridentiner Konzil eröffnet, das mit Unterbrechungen bis 1563 dauert und den Anspruch vertritt, eine Kirchenversammlung zum Weltmittelpunkt zu erheben. Während das habs burgische Weltreich auseinanderfällt, steht das Papsttum gerüstet, das Welt reich der Kirche neu zu begründen. Seine Soldaten sind die zu militärischer Unterordnung und blindem Gehorsam verpflichteten Jesuiten mit einem „General“ an der Spitze, sein treuester Bundesgenosse ist Spanien, die katholischste und kriegerischste Nation dieses kämpfereichen Zeitalters.