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am Einfachen und an der Schönheit nahm und deren Ideal Unruhe und Bewegung sein sollte, nicht nur im Gebiet des Geistes, wegen der Aufrüttelung der Seele zu neuen Glaubenstaten oder, im Weltlichen, zum Großbetrieb der absoluten Herrschergewalt, sondern rein aus ästhetischen Gründen. Raffaels Klassik hält kein Mensch lange aus; der Mensch ist nicht zum Glück geboren. Aber, von Erdbeben und Ekstase allein kann die Kreatur andererseits auch nicht auf die Dauer leben. Was auf den Stil des Klas sischen, den Stil der Hochrenaissance, folgt, muß daher aus seltsamsten Elementen zusammengesetzt sein. Übertreibendste Formen sprache mit absichtlicher Verzerrung aller Harmonien, vorgestellt im luftleeren Raum schönster Gedanken, geht Hand in Hand mit derbstem Realismus, sowie im 16. Jahrhundert schon bei Tintoretto. Es will einer das Erschütterndste malen, die Grabtragung Christi, für die feierlichste Kirche der Welt. Millionen von Menschen soll das zu Herzen gehen. Aber er malt das so, als wäre dies keine heilige Legende, sondern so, als wäre es gestern geschehen; und nun ist seine religiöse Inbrunst so stark, daß seine Phantasie nicht anders kann, als sich dies so überzeugend wirklich vorzustellen, daß er dem Heiland, der auf nackten Füßen wandelte, Schmutz an die Sohlen malte. Mit hartem Realismus, der auch vor dem Grausigsten der Märtyrerszenen nicht zurückschreckt, werden der durch den Dogmenstreit der Kirche zweifelnd oder stumpf gewordenen Christenheit die großen Gegenstände der Menschheit wieder von Neuem interessant gemacht. Zugleich aber werden von den Künstlern hierbei ganz unerhörte neue Dinge entdeckt und ausgebildet, geliebt und schließlich zur Alleinherrschaft erhoben. Anstatt der Schönheit des Körpers die Magie des Lichtes im Pleinair, was zugleich die Dämonie .des Schattens und Halbschattens und das Wunder des Helldunkels voraussetzt. Und unter dem Einfluß der Lichtmalerei wird die Farbe, bisher Schmuck und Harmonie der Körperwelt, ein selbständiges Ausdrucksmittel von sinnlich-seelischer Bedeutung. Barock ist durchaus malerisch bestimmt; nicht nur in der Malerei. Bei der Marmorgruppe von Berninis heiliger Therese weiß man nicht und soll man nicht wissen, ob nicht der Marmor irgendwo hinten am Ende doch in nur gemalte Wölbungen übergehe und heimlich doch das Farbige des Tones mitwirke. Gleichzeitig aber entstehen Bilder, so geordnet im Aufbau und so kühl in der Farbe, daß man meinen möchte, der Künstler hätte Raffael über alles geliebt - wenn da nur nicht eben die Bewegung der Luft und das Schattendunkel der Farbe wäre, bei Poussin oder Dominichino, oder über dem Lichtglanz der Stadt Delft, wie Vermeer sie über das Wasser hinweg sah. Barock ist immer Alles in Allem und Alles in Einem. Manchmal reicht er ans Gesamtkunstwerk, und Malerei ist nur Schmuck von Riesenflächen - aber ein von Rubens gemalter Schmuck, also eine auch ohne Gesamtkunstwerk erlesene Kostbarkeit. Bisweilen scheint es, als könne Barockkunst nur leben im Aufwand des ganzen großen Orchesters mit allen Stimmen und Registern, aber dann ist das seelisch stille Beieinander von Philemon und Baucis durch die selt same Bewegung fließenden Dämmerdunkels auch nur in der zitternden Unbestimmtheit denkbar, in welche der Barock die ganze Welt getaucht hat. Nie wieder, in keinem anderen Stil, stehen die schroffsten und schneidendsten Gegensätze so unvermittelt neben einander, Märtyrergeschrei neben seliger Wonne, Frans Halsischer Uniformenprunk der Farbenpracht neben spanischer Zurück haltung, tobendste Sinnlichkeit neben verklärter Keuschheit, Freude an der charaktervollen Häßlichkeit ganz dicht neben hin reißender Süße im Ausdruck eines feinen Mädchenantlitzes. Beides von ein und demselben Flamen verherrlicht. Denn nicht nur innerhalb des Gesamtstiles, sondern auch innerhalb ein und derselben Künstlerseele liegen die Widersprüche und Paradoxien in hellen Haufen übereinander getürmt. Ein Baumeister verbiegt und verbeult eine Kirchenfassade mit Löchern und Nischen, mit Ausluchten und Vorkragungen, mit Schwellung und Wölbung so, daß, ebensowenig wie eine gerade Linie, auch nur irgendwo eine einzige lotrechte Fläche stehenbleibt - alles auf das Malerische, alles auf Licht und Schattenwirkung hin. Als wäre eine Kirchen fassade ein Aquarell. Aber das Innere dann, auch auf Lichtwirkung hin gearbeitet, mit dem Wechsel von Kreisen und Ellipsen im Grundriß, mit Halbkreis und Vierteloval, alles durcheinandergeschoben - dieses Ganze ist dann plötzlich, auch dann im Äußeren spürbar, die höchste und feinste, die kälteste und eleganteste Mathematik. Was anfängt wie ein schwärmend hingeschriebener Ein fall, ist im Grunde das Ergebnis einer schlafwandelnd sicheren Berechnung von äußerster Verwickeltheit. Immer schwingt im Barock das Pendel der Gefühle aus bis in die äußersten Punkte. Barock verschweigt nichts, sondern sagt alles zu Ende. Barock spart mit nichts, sondern verschwendet. Nie hat ein Zeitalter so viel auch an materiellem Aufwand für Kunst aufgebracht wie dieses. Es ist, als wäre Kunst überhaupt als das letzte Ziel des Daseins und als der wahre Zweck des menschlichen Lebens angesehen worden, für das Glück der Seele wie für die Lust der Sinne, für den Rausch des Blutes wie für die stille Behaglichkeit nachdenklicher Augen beschaulichkeit, für Krieg und Frieden: Kunst, als Idee, um jeden Preis. EMIL WALDMANN