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Mutter ihrem durstigen Töchterchen einen soeben aus dem Keller geholten frischen Trunk reicht. Die gleiche Mutter mit ihrem Kind, durch eine Pforte in der Stadtmauer ein paar Treppenstufen herunterkommend, erkennen wir auf dem anderen Gemälde, dem „Hof eines holländischen Hauses“ in Lon don (73x59 cm), das unten links am Türpfosten mit der Signatur des Künstlers und der Jahreszahl 1658 versehen ist. Hier ist mit besonderer Freude an perspektivischen Durchblicken der Hausdurchgang so abwechs lungsreich wie möglich gemacht worden. Man beachte die offenen Gang türen und die ovalen Fensterchen darüber sowie die Wohnungstür im Flur, ferner das Holzgattertor hinten und die Haustür des Gebäudes jenseits des Gäßchens und übersehe auch nicht den offenen roten Fensterladen ganz links, den der Künstler ähnlich auf Vermeers „Straße in Delft“ vorgefunden hatte. In Amsterdam hat Pieter de Hooch das einfache bürgerliche Milieu ganz ver lassen. Um 1670 zeigen seine Bilder die allgemeine Entwicklung des hollän dischen Genrebildes, das sich jetzt der Schilderung der reich gewordenen Ge sellschaftsklassen zuwendet. Wohl ge lingen ihm noch Interieurs mit groß artigen Beleuchtungseffekten und glän zenden Raumkonstruktionen, aber die glatte, routinierte Malweise und die flaue Farbigkeit bringen sie um ihre Wirkung. JAN VERMEER VAN DELFT (vor dem 31. X. 1632 bis Mitte Dez. 1675). Der erst vor rund 75 Jahren wiederent deckte Delfter Jan (Joannes) Vermeer gilt heute fast allgemein als der bedeu tendste und feinsinnigste Genremaler und nächst Rembrandt und Hals als der dritte große Meister der holländi schen Malerei. Außer zwei oder drei Arbeiten, über die man sich noch nicht ganz einig ist, werden ihm 40 Bilder mit Sicherheit zugeschrieben, von denen die Hälfte signiert ist, und zwar meist I V Meer; nur ein Bild, die von uns wiedergegebene Liebesszene in Dres den, ist mit einer einwandfreien Jahres zahl versehen. Als Sohn eines Gastwirts in Delft geboren, hat er anscheinend die Stadt kaum auf längere Zeit ver lassen. Das Wirken des 1654 verun glückten Carel Fabritius (vgl. S. 79) in Delft ist zweifellos nicht ohne Einfluß „ 17 auf ihn geblieben, ein Schülerver- J an ermeer van hältnis ist aber nicht nachweisbar. 1653 schließt Vermeer eine Ehe, der elf Kinder entsprossen sind, und im gleichen Jahr tritt er als Meister in die Delfter Lukas-Gilde ein, jedoch kann er den Aufnahmebetrag von sechs Gulden nur in Raten bis Mitte 1656 bezahlen. Später ist er zweimal Vorstandsmitglied des Malerbundes, indessen ist es ihm wirtschaftlich immer schlecht gegangen; seine Betätigung als Kunsthändler scheint ihm mehr Sorgen als Einkünfte gebracht zu haben. Zwei aus dem Rahmen des übrigen Werkes fallende Gemälde Vermeers setzt man vor 1656 an, eine mythologische Szene: „Diana mit ihren Nymphen“ im Mauritshuis im Haag und eine biblische Darstellung: „Christus bei Ma ria und Martha“ in Edinburgh; beide Bilder zeigen Figurengruppen, die reliefartig vor unbestimmtem Hintergrund und unter starker Betonung der Bilddiagonalen aufgebaut sind. Besonders das mythologische Gemälde ist auffallend geometrisch durchkonstruiert; die fünf Gestalten sind so gereiht, daß sie einen kreuzförmigen Grundriß bilden. Dieses Ordnungsprinzip läßt sich bei vielen Vermeerschen Interieurbildern nachweisen, namentlich im Diagonalverlauf der Bodenfliesen, in der Übereckstellung der Sessel und in der Reihung von Möbeln, Vorhängen, offenen Fensterflügeln und Personen. Trotz italienischer Anklänge im Motiv, in Form und Farbgebung kommt in beiden Frühbildern niederländisches Empfinden deutlich zum Ausdruck. Das trifft auch auf das abgebildete Dresdener Gemälde „Bei der Kupplerin“ (1,43x1,30 m) zu, das, 1656 datiert, ein Thema des Caravaggio-Kreises ab wandelt, wie es durch Gerard van Honthorst und andere Utrechter Künstler nach dem Norden gebracht worden ist. Da Vermeer das Kostüm seiner Zeit verwendet, denkt man kaum mehr an das biblische Motiv des Gleichnisses vom verlorenen Sohn, das früher den Vorwand für solche Dar stellungen abgeben mußte. Wirklich sind es auch holländische Typen, und die Szene spielt wie in den anderen Gemälden mit würfelnden, musizieren den, weintrinkenden Kavalieren und jungen Mädchen in einem Delfter Freudenhaus. Die hübsche Dirne zeigt ihr einnehmendes Wesen in anmutig ster Weise und nimmt die kecke Hand greiflichkeit des Kavaliers, der ein blinkendes Goldstück vorweist, nicht übel. Mit lauerndem Blick begleitet die Kupplerin den Vorgang, und verständ nisinnig blinzelt der vergnügte Lauten spieler einem unsichtbaren Publikum zu. Solches Herausschauen aus dem Bilde findet sich auch auf späteren Werken Vermeers, so auf dem be rühmten Braunschweiger Gemälde „Das Mädchen mit dem Weinglas“ (nach 1660), auf dem ein gesitteter Glücksritter seiner uns anlächelnden Schönen sehr artig ein Glas kredenzt, während sich im Hintergrund ein an derer Kavalier langweilt. In Dar stellungen von Innenräumen, wie in unserem verhältnismäßig großen Dres dener Frühbilde, rückt Vermeer häufig Gegenstände, meist einen teppichbe deckten Tisch mit wunderbarem Stil leben, so nahe an den vorderen Bild rand, daß sie wie bei einem ungeschick ten Photographen übermäßig groß erscheinen und die Figuren über schneiden. In dem wiedergegebenen Gemälde ist ein farbenleuchtender kleinasiatischer Teppich über eine ganz vorne aufgerichtete Brüstung gelegt, auf ihm liegt eine dunkelbraune Pelz jacke mit gelben Troddeln, und rechts steht auf einem Tischchen ein tief blauer Steinkrug, in dessen Nähe das Mädchen ihr grünlich schimmerndes Glas hält. Dieses ausgebreitete, farbig überaus reizvolle Stilleben nimmt die ganze untere Hälfte des Gemäldes ein und bewirkt, daß die vier Gestalten zu Halbfiguren werden. Durch die Farbenpracht wird die rechte Bildhälfte, auf die helles Tageslicht fällt, gegen die dunkle linke Seite kräftig abge hoben, wo ein Rembrandtsches Licht interessante Effekte erzielt (vgl. Abb. S. 75). Rings um die lebensgroßen Figuren aber herrscht Dunkel, so daß der enge Raum unklar bleibt. Das stärkste Licht sammelt sich auf dem Gesicht und Oberkörper des Mädchens, dessen zitronengelbes Jäckchen mit dem kräftigen Rot der goldbordierten Männerjacke eine schöne Farbenharmonie bildet. Um ein besonders starkes Leuchten innerhalb einer vom Licht ge troffenen Zone zu erzielen, liebt es Vermeer, über solche Stellen körnige Farbtüpfelchen von größter Helligkeit perlen zu lassen; man bemerkt das hier an der Goldborte der roten Jacke. Vier Figuren wie auf unserem Bild hat der Künstler nur noch einmal auf einem Gemälde vereinigt, einer Darstellung von allerdings ganz anderem, viel stillerem und schlichterem Charakter, dem wohl erst Mitte der sechziger Jahre entstandenen „Christus in Emaus“; das heute im Museum Boymans in Rotterdam befindliche Bild wurde erst 1937 bei Gelegenheit einer Erb- Bei der Kupplerin. Dresden, Gemäldegalerie