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muß genauer hinsehen, wenn man erkennen will, welche Gestalten mehr Leben haben, die vornehmen Besucherinnen oder die Figuren der gewirkten mythologischen Darstellung. Man darf freilich dem Maler des 17. Jahr hunderts noch nicht die Absicht unterstellen, daß er die Schönheit der Arbeit hat schildern wollen, wenn er ihr auch hier wirklich das Hohelied gesungen hat. BARTOLOME ESTEBAN MURILLO (vor dem 1. I. 1618 bis 3. IV. 1682). Der volkstümlichste Meister der spanischen Malerei ist Murillo, der als vierzehntes Kind eines Barbiers in Sevilla zur Welt kommt. Mit zehn Jahren verwaist, wird er von seinem Vormund in die Lehre eines einheimi schen Künstlers gegeben. Was er von diesem lernt, reicht aus, um zunächst mit anspruchslosen Andachtsbildern, die auf Märkten und Messen verkauft werden, sein Leben zu fri sten. Daß er im Alter von 24 Jahren nach Madrid ge reist und dort von Velz- quez in die Welt der großen Kunst eingeführt worden sei, ist Legende; bis zu sei ner Heirat im Jahre 1645 hat er, wie er selber in einer Urkunde bezeugt, seine Heimat niemals verlassen. 1660 wird erzürn Präsiden ten der neugegründeten Malerakademie in Sevilla gewählt, aber er verzichtet später wegen der Feind seligkeiten neidischer Kol legen auf eine Wiederwahl. Alle Nachrichten über ihn bezeugen seine tiefe und reine Frömmigkeit, die auch aus allen seinen Ar beiten spricht. Bis ins hohe Alter unermüdlich tätig, ist er schließlich bei der Arbeit in der Kapuzinerkirche in Cadiz vom Gerüst gestürzt und wenige Tage danach in Sevilla gestorben. Was die Heimat dem jun gen Murillo an Vorbildern bot, waren einmal die Lei stungen der einheimischen Malerschule und zum an dern die Werke der großen Italiener und Flamen: Raffael und Correggio, Rubens und van Dyck, die er vielleicht in den Häusern der Granden sah oder durch Kupferstiche kennenlernte. Sein Bestes verdankt er zweifellos seinen Landsleuten, vor allem Juan de Ruela und Francisco Herrera d. Ä., in deren Arbeiten bereits jene merkwürdige Verschmelzung mystischer und naturalistischer Züge zu tage trat, wie man sie in der religiösen Malerei des spanischen und besonders des Sevillaner Barock immer wieder beobachten kann. Den stärksten Aus druck spanischer Glaubensinbrunst in Verbindung mit wirklichkeitsnaher Anschauung zeigte aber erst Francisco de Zurbarän (1598-1664), dessen mönchische Visionslegenden und andachtstrunkene Heiligenfiguren durch den Adel, den Ernst und die Wahrheit seiner aus den Tiefen des Gefühls schöpfenden Kunst der Menschendarstellung alles Bisherige übertrafen. Das Werk, durch das sich Murillo mit einem Schlage aus der Zahl namen loser Künstler heraushob, war eine Folge von elf Legendenbildern, die er 1645-1646 für den kleinen Klosterhof von San Francisco in Sevilla schuf. Mit behaglichem Humor schildert er in dem eigenartigsten dieser Gemälde, der „Engelküche“ des Louvre, die Legende vom braven Klosterbruder und Ordenskoch Diego, der in seliger Verzückung dem Küchendienst ent schwebt, derweil eine liebliche Engelschar gleich Heinzelmännchen sein Amt übernimmt. Nicht minder reizend ist die von realistisch geschilderten Elendsgestalten umgebene Kindergruppe in der „Armenspeisung des hl. Diego“ (Madrid, Akademie). An solchen gemütvollen Zügen sind auch die Bilder der folgenden Jahre reich, die in überaus glücklicher und formvollen deter Weise den kleinbürgerlichen Frömmigkeits- und Schönheitsidealen der gegenreformatorischen Zeit entgegenkommen und mit einfachen, ehr lich angewandten Mitteln und in ihrer biederen, zu Herzen gehenden Ge bärdensprache den rechten Volkston treffen. Welch liebenswürdige Stim mung herzlichen Glücksgefühls weht uns aus einem Bild wie „Die hl. Familie mit dem Vöglein“ im Prado entgegen! Welch einen Himmel reinster Har monie vermag Murillo zu erschaffen, wenn er die Madonna als strahlende Himmelskönigin erscheinen läßt oder sie in bäuerlicher Magdgestalt als Repräsentantin irdischen Mutterglücks auf die Erde herunterholt. Hier für diene als Beispiel ein Werk aus der Spätzeit des Meisters, die sog. „Zigeu nermadonna“ der Galleria Nazionale d’Arte Antica in Rom (1,64x1,08 m), die um 1680 entstanden sein dürfte. Auf den ersten Blick schon erinnert sie an italie nische Vorbilder, vor allem an Raffael und Correggio, denen Murillos Kunst oft nahekommt. Aber diese holdselige Muttergottes mit dem braunen Gesicht und dem pechschwarzen Haar, deren dunkle Augen so ernst auf uns gerichtet sind, ist eine echte Spanierin, eine Frau aus dem andalusi schen Volk, und auch der Knabe, der jetzt artig auf dem Schoß der Mutter sitzt, verspricht ein glutäugiger Andalusier zu werden. Ho heitsvoller ist die Madonna des Prado, süßer die des Pitti-Palastes in Florenz. Wie überirdisch und zu gleich menschlich weiß Mu rillo ferner der seltsamen theologischen Konstruk tion der „unbefleckten Empfängnis“ Gestalt zu verleihen, diesem aus der Tiefe der Sevillaner Volksseele geborenen, durch ein päpstliches Breve von 1613 in das Lehrgebäude der katholischen Kirche aufgenommenen My sterium, das die Spanier „La Inmaculada Concepcion“ nennen. In diesen Darstellungen, in denen die von der Erbsünde freie, zur Mutter des Gottes sohnes bestimmte Jungfrau (span. „La Pun'sima“, „Die Reinste“), von kleinen Engeln umspielt, in verklärter Schönheit zum Himmel empor schwebt, ist der ganze Gefühlsausdruck in die großen traumverlorenen Augen verlegt. Wir nennen hier als die schönsten Fassungen dieses von Murillo immer wieder behandelten Themas die „Concepcion der Fran ziskaner“ von 1652 im Erzbischöflichen Palais in Sevilla, dann die beiden Altarbilder aus der Kapuzinerkirche im Sevillaner Museum, ferner zwei fast rokokohafte Gemälde im Prado und schließlich die einst vom Marschall Soult entführte sog. „Conception Soult" von etwa 1678 im Louvre. Und wie märchenhaft und wundersam behandelt der kindlich fromme Meister die „Vision des hl. Antonius“, die Erscheinung des nackten Christkindes vor dem Heiligen, der sich ihm in seliger Verzückung entgegenreckt. Das erste dieser Gemälde ist das 1656 für die Taufkapelle der Kathedrale gemalte riesige Altarbild, die letzte Fassung die um 1680 entstandene Darstellung des Heiligen mit dem Kind in den Armen im Berliner Museum, zugleich wohl das letzte Bild, das Murillo noch in seiner Vaterstadt vollenden durfte. Diego Veläzquez: Die Teppichweberinnen. Madrid, Prado 48