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fer die Seele dem hoch oben in der höchsten und lichtesten Region schwe benden Christus empfiehlt. Dort, wo die Aufwärtsbewegung eine kräftiger hervortretende Linienführung verlangt, sind die Konturen stärker heraus gearbeitet, so etwa bei den beiden großen Wolkenbergen und den Gestalten der Gottesmutter und des Täufers, während der Umriß der zahllosen Heili gen und Engel, die aus den Wolkenmassen hervorwachsen, unbestimmt ge halten ist. Dem eindrucksvollen Beziehungsreichtum der Linien in den bei den Bildhälften zueinander steht der Rhythmus der Färb- und Lichtwerte in ihrem Schwung nach oben nicht nach. Die Tendenz des Hinauflenkens von Augen, Gedanken und Träumen an dächtiger Betrachter in lichtere Sphären durch Linie, Farbe und Licht ver folgt der Künstler auch bei seinem weiteren Schaffen im Dienst der Religion. Eine bedeutende Etappe ist der 1591 begonnene, 1599 vollendete Altar mit der „Marienkrönung“ und vier anderen Gemälden sowie einer Marien statue in der Pfarrkirche von Talavera la Vieja. Greco wählt jetzt für Riesen bilder äußerst schmale Hochformate und steigert die Streckung der Leiber, Gliedmaßen und sogar der Köpfe und ihrer einzelnen Teile zu schließlich fast formlosen Gebilden mit verschwommenen Umrissen. Wir nennen hier nur die „Anbetung der Hirten“ im Thronsaal des Bukarester Königspalastes (um 1590/1600), die „Klage unter dem Kreuz“ (um 1595/1600), die „Taufe Christi“ (ebenfalls vor 1600), die spätere „Auferstehung Christi“ und die farbenreiche, gleichfalls späte „Ausgießung des hl. Geistes“ im Prado sowie endlich die „Himmelfahrt der Maria“ im Museo de San Vicente in Toledo (um 1609/12). Die Naturform menschlicher Gestalt ist für diese Träger übersinnlicher Gedanken bereits nebensächlich, ja fast unmöglich. Die von schimmerndem Licht überrieselten, durchleuchteten Gestalten sind gleich sam Astralleiber geworden, denen nichts Irdisches mehr anhaftet. Oft trifft man, vor allem bei Engeln, Gesichter von überschmalem Oval mit auf wärts strebenden Stupsnasen, schiefem Mund und verzogenen Brauen. Die stärkste Entmaterialisierung der Körper zeigen indessen die Gemälde der letzten Jahre: die „Anbetung der Hirten“ von etwa 1606/08 im Metro politan Museum in New York, die beiden Darstellungen „Christus im Hause des Pharisäers“ im Museum von Kansas City und in amerikani schem Privatbesitz, die „Heimsuchung“ in einer Sammlung in Washington, die geisterhafte „Verlobung von Maria und Joseph“ im Besitz des rumäni schen Königs und die unvollendete „Taufe Christi“ im Hospital de San Juan Bautista in Toledo, eines der letzten dem Künstler in Auftrag gegebe nen Werke, das 1608 begonnen wurde. Alles aber wird an Maßlosigkeit noch übertroffen von dem phantastischen, fast grotesken Apokalypsen-Bild „Eröffnung des fünften Siegels“, das dem Maler Ignazio Zuloaga in Zumaya gehört. Hier kniet, einem mächtigen Baumstamm mit gekappten Ästen gleichend, ein Wesen von übermenschlicher Unförmigkeit mit wahnsinnig aufgeworfenen Armen und hat die Vision der Auferstehung der Seelen, deren aufgleißende Leiber sich recken, um die ihnen von Engeln zuge worfenen weißen Gewänder über ihre Blößen zu streifen. Außerordentliche Wirkungen erreicht der Meister auch in monumentalen einzeln stehenden oder zu zweit vereinigten Gestalten. Den stärksten seeli schen Ausdruck vermittelt eines der 1605-1606 für die Capilla Mayor des Hospitals de la Caridad in Illescas geschaffenen Gemälde, das den hl. Ilde fonso in seiner Mönchszelle schreibend wiedergibt. Dichterische Ekstase hat ihn ergriffen; während eine wunderbar vergeistigte Hand auf seinem Schreibbuch liegt, hebt sich die Rechte mit dem Gänsekiel in einer viel sagenden, irdische Gedanken abweisenden und mit himmlischen Träume reien mitschwingenden Bewegung, schauen die verlorenen Augen an einer puppenhaften Madonnenstatue an der Wand über dem Schreibtisch vorbei, ein anderes Madonnenbild im Geiste erblickend. Halbfigurenbilder von Heiligen, vor allem von Aposteln, hat der vielbe schäftigte Meister anscheinend oft zwischen 1590 und 1600 mit eiliger Hand geschaffen. Bedeutender sind die Bildnisse. Ein besonders eindrucksvolles ganzfiguriges Stifterporträt ist das „Bildnis des Don Julian Romero mit seinem Schutzheiligen“ (um 1590; Prado), das Bild eines knienden Hidalgos, den der tief ergriffene Heilige Gott empfiehlt. Als das unbestritten stärkste Porträtwerk Grecos und eines der großartigsten Meisterwerke der Bildnis kunst überhaupt gilt das gleichfalls ganzfigurige „Bildnis des Kardinal inquisitors Don Fernando Nino de Guevara“ von 1600/01 im Metropolitan Museum in New York, von dem sich die hier wiedergegebene Wiederholung im Brustausschnitt (74X51 cm) in der Sammlung Oskar Reinhart in Win- Greco: Bildnis des Kardinalinquisitors Don Fernando Nino de Guevara. Winterthur, Sammlung Oskar Reinhart terthur befindet. Hier hat der Künstler all die reichen Mittel, die ihm zu Gebote standen, aufgewandt, um das abgründig Unerbittliche eines Men schen zum Ausdruck zu bringen, in dessen Seele Glaubensfanatismus alle Menschlichkeit ertötet hat. Der Kardinalinquisitor ist während eines Ketzer gerichts in seiner Amtsrobe auf einem einfachen Lehnsessel sitzend darge stellt, hochaufgereckt, so daß er größer erscheint, als er gewesen sein mag, aber nicht angelehnt, sondern lauernd und wie zum Sprung bereit. Die Arme sind auf die Lehnen gelegt, die fast frauenhaft schöne rechte Hand hängt, Milde und Sanftheit des Richters vortäuschend, leicht herunter, wäh rend die Linke, die sich unter dem großen Umhang verbergen möchte, krallenartig in den Knauf der Lehne verkrampft ist und die Wut und Erre gung des Inquisitors verrät. Unverhüllt kommt dieser Ausdruck im dämoni schen Gesicht zur Geltung, aus dem die kältesten Augen unmittelbar auf den Betrachter blicken, an dessen Stelle man sich den Ketzer denken muß. Aber man hat das Gefühl, dieser Blick richte sich nicht auf unsere Augen, sondern lauernd und gespannt auf unseren Mund, um ihm das Schuldbekenntnis abzulesen. Man ist sogar, wenn man das böse Antlitz nach allen Anzeichen abtastet, der Überzeugung, daß sich das Ohr spitzt, damit ihm nichts ent-