Volltext Seite (XML)
beleuchtete Gestalten aus dem verschwimmenden Raumschatten hervor treten zu lassen. Der Wandel von der ersten, noch venezianischen zur zwei ten oder dritten, schon römischen Fassung einiger Szenen aus dem Neuen Testament verrät, daß sich der junge Meister inzwischen Raffaels Kom positionskunst anzueignen gesucht hat. Neben Raffael hat auch Michelangelo auf die Körpermodellierung in diesen Bildern gewirkt, die aber in ihrer Haltung, im Grundton und Kolorit noch immer ganz venezianisch bleiben. Noch in Italien beschäftigt sich Greco be reits mit der Darstellung des hl. Franziskus, der später sein Lieblingsheiliger geworden ist. Die Vertiefung, Verinnerlichung und Vergeistigung dieses von ihm unendlich häufig behandelten Themas hat sich jedoch erst in Spanien vollzogen, in Toledo, das nach Italien seine dritte Heimat wurde. Zu seinen ersten auf spanischem Boden ausge führten Arbeiten gehört das fast drei Meter hohe Altarbild der „Entkleidung Christi“ (span. „Espolio") in der Hauptsakristei der Toledaner Kathedrale, dessen reifste ver kleinerte Wiederholung aus der Mitte der achtziger Jahre in die Münchener Pinakothek gelangte (i ,65 X 0,99 m). Christus ist von den Kriegsknechten auf den Richtplatz geführt worden, um seines Purpurs entkleidet und an das Kreuz genagelt zu werden. Hoch aufgereckt und den Blick aufwärts in eine andere Welt richtend steht er als einzige in ganzer Größe sichtbare Figur auf dem Bild in Toledo fast genau in der Mittelachse; die hier wiedergegebene Münchener Fassung zeigt ihn etwas mehr aus dem Zentrum ge rückt und räumt dem römischen Haupt mann einen wichtigeren Platz neben ihm ein. Auf der anderen Seite ist der brutal zu packende Henker gerade bemüht, dem Ver urteilten das Gewand auszuziehen. Der Hintergrund ist angefüllt mit den mitleidig, neugierig oder höhnisch blickenden Köpfen von Kriegern und Pharisäern, während sich in den Zügen und Gesten der drei Marien Entsetzen mit Sensationslust mischt. Die Gegensätze von Hoheit und Niedrigkeit sind klar, aber ohne Übertreibung heraus gearbeitet: dicht neben dem edlen Antlitz Christi sind rechts und links die gemeinsten Gesichter angebracht. Die drei Frauen des Vordergrundes haben in der Bildkompo sition die Aufgabe, den Betrachter auf die Hauptszene vorzubereiten und in ihm den Eindruck herzustellen, als befinde er sich inmitten der Zuschauer, denen zuliebe der Hauptmann sich in eine so eindrucksvolle Positur wirft. Wie klein wirkt jedoch die an maßende Haltung der Vollstrecker der ir dischen Gerechtigkeit, die zur Schau gestellte Vornehmheit und Würde des Hauptmanns und die schauspielerhafte Wichtigtuerei des Henkers, gegen über der gottergebenen, über alle menschliche Gemeinheit siegreich trium phierenden Lichtgestalt! Wirkungsvoll steigert der Lichteinfall die Bewegt heit der Szene und die Ausdruckskraft der Gestalten und Köpfe. Die Farbe ist nicht mehr eine nachträgliche Verschönerung der Zeichnung, sondern das virtuos gehandhabte Mittel des Bildaufbaues und der Modellierung; der Pinsel folgt nicht mehr nur den vorher durch den Zeichenstift festgelegten Umrissen, sondern entscheidet nach eigenen Gesetzen, indem er, besonders in den Köpfen des Hintergrundes, breite Farbflecken oder spitze Striche nebeneinander setzt, aus deren Zusammenwirken sich erst im Auge des Be trachters körperhafte Formen ergeben. Gleichzeitig mit der „Entkleidung Christi“ führt Greco für das Nonnen kloster Santo Domingo el Antiguo in Toledo drei Riesenaltäre einschließ lich des plastischen Schmuckes aus; es kann hier nur nebenher erwähnt werden, daß sich der Meister gelegentlich als Bildhauer betätigt und auch Entwürfe zu Bauwerken geliefert hat. Von den 1577-1579 geschaffenen Gemälden für die Altäre der Klosterkirche befinden sich noch zwei Haupt bilder an Ort und Stelle, die „Auferstehung Christi“ und die „Anbetung der Hirten“ in den beiden Querschiffen, diese am fortschrittlichsten in der Abwen dung vom Klassischen, denn ihre im Umriß zerfließenden Figuren schweben in wesen losem Raum ohne festen Boden unter den Füßen. Demgegenüber sind die athletischen Akte der „Auferstehung“ prachtvoll model lierte Gestalten von harmonischem Körper bau, und auch die mit einer Engelschar gen Himmel schwebende Maria sowie die verklärten Apostelgestalten auf dem 1577 datierten einstigen Mittelstück des Hoch altars, der „Himmelfahrt der Maria“ (jetzt im Art Institute in Chicago), wetteifern in der Vollendung des Körperbaues mit aen besten italienischen Schöpfungen. Am groß artigsten aber ist die vom Hochaltar in den Prado gelangte „Dreifaltigkeit“ mit dem wie aus Elfenbein geschnitzten Christuskörper. Von da ab, also seit den achtziger Jahren, beginnen Grecos Figuren jene übermäßige, unnatürliche Streckung zu erhalten, als deren Ursache man törichterweise einen Augenfehler ihres Schöpfers oder eine Ver wirrung seiner Sinne angenommen hat. Die- jenigen, die von pathologischer Veranlagung des Meisters und von der Entartung seiner Kunst sprechen, haben nicht ganz unrecht, wenn sie damit einen wesentlichen Charak-. terzug jener Zeit treffen wollen und den griechischen Meister als den über alle an deren an Verstiegenheit hinausragenden Re präsentanten empfinden. Tatsächlich haftet ja der zu schwärmerischen, verzückten, ek statischen Ausschweifungen neigenden Ge sinnung der Zeit mit ihrem inbrünstigen Streben nach Vereinigung mit Gott, ihrer mystischen Visionssucht, ihrer wollüstigen Tränenergriffenheit, ihrer Lust an blut rünstigen und sexuellen Sensationen etwas Ungesundes, Krankhaftes an. Vor allem wer, begeistert von dem hohen Harmonie- Ideal der klassischen Periode italienischer Kunst, an die religiös und künstlerisch über steigerten Werke des manieristischen Stiles herantritt, wird die Preisgabe der goldenen Regeln der Perspektive und der Proportion und aller anderen Schönheitsbegriffe und den propagandistisch aufgepeitschten Jenseitskult als Verirrung und Ent artung ansehen. Naht man sich aber Greco und dem Manierismus mit der Anschauung, daß die künstlerischen Äußerungen einer Periode oder einer nationalen Gemeinschaft formgewordener Inbegriff ihrer geistigen und see lischen Haltung sind, überzeitlichen oder übernationalen Charakter also nicht zu haben brauchen, um groß zu sein, so wird man diesen uns oft fremd artig anmutenden Werken mit der gleichen Ehrerbietung begegnen, die man den zeitgebundenen oder nationalbedingten Werken anderer Epochen oder fremder Kulturen zollt. Grecos Stilwandlung erfolgt nicht plötzlich, zunächst überschreiten seine Gestalten das in der Renaissance festgelegte Normalmaß kaum wesentlicher als die der italienischen Manieristen. Anhaltspunkte für die Entwicklung Greco: Entkleidung Christi. München, Pinakothek