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Nicolas Poussin: Schlafende Venus, von Hirten belauscht. Dresden, Gemäldegalerie dieser Schaffensperiode den vielbewunderten echt französischen Charme. Anhand theoretischer Abhandlungen, die der Meister jetzt studiert, vertieft er sich in die Probleme der Geometrie, Perspektive, Optik und Proportion. Vor allem beschäftigt ihn aber die Frage, welche Wirkung seelische Erre gungen auf den Körper ausüben, wie Seelisches körperlich klar und eindeu tig wiedergegeben werden kann. Den Franzosen gelten diese Werke als die vollkommensten Schöpfungen ihres Nationalgeistes, in Deutschland werden sie vielfach als zu konstruiert empfunden. Die Periode des sorgfältig und klar durchgeführten Bildaufbaues, der namentlich berühmte Bilder des Louvre angehören, wie „Raub der Sabinerinnen“, „Triumph der Flora“, „Errettung des Pyrrhus“, „Der Schulmeister von Falerii", „Arkadische Hir ten“ und „Mannalese“, soll hier eines der repräsentativsten Gemälde Pous sins in deutschem Besitz veranschaulichen, das Dresdener Bild „Das Reich der Flora“ (1,31 X 1,81 m), auch „Die Verwandlung der Pflanzen“ genannt, ein Symbol beseligten Daseins, zugleich einer Feierstunde der Natur, in der ein elegischer Ton mitschwingt: Vergänglichkeit. Dargestellt ist Flora, die römische Göttin des Frühlings, tanzend und blütenstreuend im Kreise blumen- haft schöner Menschen, die einst nach Ovids Mythen in Pflanzen verwandelt wurden. Zwei herrliche Jünglingsgestalten bemerkt man rechts; der eine ist Apollos Liebling Hyazinth, der, von der Diskusscheibe des Freundes getrof fen, sein Leben aushauchte und aus dessen Blut der wehklagende Gott die Hyazinthe sprießen ließ; der zweite Jüngling ist, von seinen Windspielen be gleitet, der Jäger Adonis, der von einem wilden Eber getötete Geliebte der Venus, aus dessen Blut die Anemone entstand. Auf der anderen Seite, vor der bekränzten Herme des Naturgottes Pan, stürzt sich Ajax, der griechische Held, den Odysseus um die Waffen Achills betrog, aus Wut in sein Schwert; auch aus seinem Blut wuchs die Hyazinthe hervor. Neben ihm beugt sich der in sich selbst verliebte schöne Jüngling Narziß über sein Spiegelbild im Wasserkrug, den ihm Echo, die Bergnymphe, reicht. Sie verzehrte sich in unerwiderter Liebe zu ihm zum wesenlosen Schall, der nur antworten kann, und den hartherzigen Jüngling ließ die beleidigte Göttin der Liebe in einen Quell versinken, in dem er einen schönen Knaben zu sehen vermeinte. Sein Name ging auf die Todesblume über, die neben dem Quell hervorsproß. Hinter ihm windet sich auf dem Bilde die reizende Smilax, das in eine Stechwinde verwandelte Mädchen, und rechts vorne schmiegt sich die einst in die Blume Heliotrop verzauberte Clytia an ihren Geliebten, den Sonnengott Sol, der in anderer Gestalt, seine Rosse peitschend, hoch über den Wolken dahinfährt. Kleine reigenspielende Liebesgötter schlie ßen den Kreis, den in rhythmischem Wechsel die stehenden, knienden, sitzenden oder liegenden Figuren um die anmutige Tänzerin bilden. Eine kunstvoll ver schönerte Natur unterstützt das wohllautende Auf und Ab der Körper: der in die Tiefe leitende Laubengang, die kranzumwundenen Bäume, die Pansherme mit dem reliefgeschmückten Altar und der nach Art eines überlaufenden römischen Brunnens gestaltete Felsen- quell. Alles, was zu einer wohlgeordneten arkadischen Landschaft gehört, ist vorhanden und in den Wohllaut der Linien einbezogen, auch der blaue Höhenzug in der Ferne und die Wolkenschwaden, über denen der goldene Sonnenwagen erscheint. Ebenso kunstvoll sind die Farben in fein ausgewogener Dosierung über das Bild gebreitet. Poussins Gemälde dieser Art haben den gegen Ende des Jahrhunderts tobenden Kunststreit ent facht, der um den Vorrang der Zeichnung oder der Farbe ging und die Künstlerschaft Frankreichs in die Linearisten oder „Poussinisten" und die Koloristen oder „Rubenisten“, die Anhänger des großen Flamen, spaltete. Rubens hatte mit seinen Gehilfen 1621-1625 für Maria de’ Medici, die Mutter Ludwigs XIII., in Paris seinen pompösen farbenglühenden Bilderzyklus (s. S. 54) geschaffen. Poussin hat sich erst nach jahre langem Zögern Ende 1640 bereitgefunden, den Be strebungen und Wünschen des Kardinals Richelieu nachzugeben, die darauf gerichtet waren, ein natio nales Kunstzentrum in Paris zu schaffen und alle auswärts tätigen fran zösischen Kräfte dorthin zusammenzuziehen. Obgleich er in Paris mit offenen Armen aufgenommen wurde, sehnte er sich bald nach Rom zurück, da ihm die Aufträge, dekorative Deckenmalereien für den Louvre und Altarbilder, nicht lagen. So reist er Ende 1642 unter einem Vorwand wieder nach Rom, das er nun nicht mehr verläßt. Aber trotz der Kürze seines Pariser Aufenthaltes war der durch frühere Bildersendungen vorbe reitete Eindruck seines Wirkens unauslöschlich. Der „Poussinismus", durch neue Bilderlieferungen von Rom aus stets genährt, wird die Mode der Aka demiker, unter denen Le Sueur (s. S. 36) und der Maler großartiger Deko rationswerke Charles Le Brun (1619-1690) hervorragen. Der lyrische Grundzug, der die bacchischen Szenen Poussins um 1630 wun derbar durchströmt, blüht zu Ende des Jahrzehnts in den „Bacchanalien“ für den Kardinal Richelieu noch einmal herrlich auf. Aber er wandelt sich kurz vor und vor allem während und nach dem Pariser Aufenthalt in den zahlreichen, wieder von Raffael stark beeinflußten religiösen Bildern und den Darstellungen römischer Tugenden zu strenger Linienhaftigkeit, die oft akademisch kühl wirkt. Die Widerstände, die der Meister in Paris anfäng lich zu überwinden hatte, haben ihn wohl zu schrofferer Formulierung sei nes klassizistischen Stiles verleitet. Die besten und bezeichnendsten Gemälde dieser Gruppe vereinigt der Louvre. Aber sobald Poussin dieses Stadium durchlaufen hat, beglückt er die Welt wieder mit den Werken seiner großen Meisterschaft, den Landschaften mit Figurenstaffage, die neben einigen bibli schen Legendenbildern und seinem einzigen Porträt, dem Selbstbildnis von 1650 im Louvre, zwischen etwa 1648 und dem Anfang der Sechziger jahre entstehen. Poussin ist in diesen Werken, die Annibale Carraccis Absichten (vgl. S. 20) weiterführen, der Schöpfer der heroischen Landschaftsmalerei, aus der noch die Landschaftskunst des Klassizismus am Ende des 18. Jahrhun derts ihre stärksten Anregungen bezogen hat. Er baut seine Landschaften zu großartigen und erhabenen Idealgebilden mit festen Stützen aus Felsmassi ven und weit ausladenden Baumgruppen auf und setzt in den klargefügten Bau als lyrisches Element seine meist kleinfigurigen Nymphen, Satyrn, Göt-