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DIE FRANZÖSISCHE MALEREI DES BAROCKZEITALTERS Die Kriegszüge Franz’ I. (1494-1547) nach Italien hatten den Franzosen die Kunst der italienischen Renaissance nahegebracht. Leonardo verlebte am Hofe des Königs seine letzten Jahre, und die Bestrebungen des Herr schers gingen weiter darauf aus, große italienische Künstler, Dichter und Gelehrte an sich zu ziehen. Sein Sohn Heinrich II. (1519-1559), der eine Italienerin aus altberühmtem Geschlecht, Katharina de’ Medici, eine Ur enkelin Lorenzos des Prächtigen heiratete, setzte diese Bemühungen fort und ebenso seine Gemahlin, die ihn um dreißig Jahre überlebte und während der Minderjährigkeit ihrer Söhne die Regentschaft führte. Die klassische Kunst der italienischen Hochrenaissance mit ihrer Hinneigung zur Antike durch dringt in diesem Jahrhundert die Kunst Frankreichs, dessen Hof und Adel mit dem humanistischen Bildungsideal auch die italienische Lebensform über nehmen. Die antike Mythologie verdrängt fast die mittelalterlich-christliche Vorstellungswelt, sowohl in der Literatur, die sich an Ovid, Virgil, Horaz und andere römische Klassiker anlehnt, wie auch in den darstellenden Künsten, den Theater- und Festdekorationen, den prunkhaften Umzügen, den Gobelinwirkereien und dem Freskenschmuck der Schlösser und Adels sitze. Gegen Ende des 16. Jahrhunderts geraten unter den Stürmen der Hugenottenkriege die von Italienern im manieristischen Geschmack ge leiteten künstlerischen Unternehmungen, die ihre vornehmste Pflege im Königsschloß von Fontainebleau gefunden hatten, ins Stocken. Ein stärkerer Zustrom flämischer Maler, die allerdings meist ebenfalls in Italien gelernt hatten, erfolgte unter Heinrich IV. (1553-1610), dem ersten Bourbonen auf dem französischen Königsthron, der in der Bartholomäusnacht von 1572 die Tochter Heinrichs II. und 1599 in zweiter Ehe wieder eine Italienerin aus dem Hause der Medici, Maria de’ Medici, geheiratet hatte. Für diese ehr geizige Regentin, die Mutter Ludwigs XIII., die ebenso wie Katharina ihren Gemahl um drei Jahrzehnte überlebte, hat der Antwerpener Peter Paul Rubens 1621-1625 seine 21 mächtigen Bilder zur Verherrlichung ihres Lebens in ihrem Pariser Luxembourg-Palais geschaffen. Damit hat die Ma lerei des Barock ihren Einzug in Frankreich festlich und prunkvoll gehal ten, freilich ohne die französischen Künstlergenerationen des 17. Jahrhun derts sonderlich zu beeindrucken. Die bedeutenden Maler Frankreichs, fast alle aus dem germanisch-keltischen Norden des Landes stammend und fast alle im letzten Jahrzehnt des 16. Jahrhunderts geboren, wenden sich nach Italien. Aber nur wenige leisten den scheinbaren Willkürlichkeiten und na turalistischen Übertreibungen des Caravaggio-Stiles Gefolgschaft, die meisten schließen sich dem klassischen Stile Raffaels und seiner bolognesischen Nach folge, der Carracci-Schule, an. Die vorübergehend oder für ihr ganzes Leben in Rom bleibenden französischen Maler geben dem klassischen Stil der Fran zosen, dem Klassizismus, seine Prägung. Ihr Ausdrucksmittel ist nicht die Farbe (das „Malerische“), sondern die Linie (das „Zeichnerische“), die sie mit der ihnen eigenen Eleganz und Grazie handhaben. Dabei entgehen sie nicht immer den Gefahren allzu kühler Formenstrenge, zumal da, wo sie - römischer als die Italiener selbst - die Ideale heroischen Römertums ver herrlichen. Klarheit, Ordnung und Vernunft, die von den Franzosen gerne als ihre Nationaltugenden gefeierten Eigenschaften, beherrschen das Fühlen und Denken der französischen Staatsmänner, Künstler, Dichter und Philo sophen im 17. Jahrhundert. Es ist das Zeitalter des ersten großen philoso phischen Systematikers des christlichen Abendlandes, des Descartes (1596 bis 1650), und der großen Dramatiker Corneille (1606-1684), Racine (1639 bis 1699) und Moliere (1622-1673), die ihre Werke unter Beobachtung strenger Regeln nach dem aristotelischen Grundsatz der Einheit von Zeit, Ort und Handlung aufbauen. Es ist die Zeit der Gründung und des Auf baues der französischen Akademien; 1635 wird die Akademie der Dicht kunst, 1648 die Akademie der Maler und Bildhauer gegründet, deren Direk toren ihre diktatorischen Befugnisse engherzig ausüben und einen strengen Kanon von Vorschriften aufstellen. Und es ist das Zeitalter des Absolutis mus, in dem die Könige Ludwig XIII. (1601-1643) und Ludwig XIV. (1638 bis 1715) und ihre Helfer Kardinal Richelieu (1585-1642), Kardinal Maza rin (1602-1661) und der Finanzreformer Colbert (1619-1683) dem franzö sischen Staat seine Form und seine Machtstellung mit der Front gegen Habsburg geben. Nach den kulturpolitischen Absichten des Herrschers wird der Kunststil ausgerichtet, der jeweils den Namen des französischen Königs oder des Regenten erhalten hat; hieraus erklären sich die Be zeichnungen Louis-Treize-Stil, Louis-Quatorze-Stil, Regence-Stil usw. Klarheit, Ordnung und Vernunft als französische Nationaleigenschaften hatten in Frankreich einen wesentlichen Zug des italienischen Manierismus, das Weltflüchtige, nicht zur Geltung kommen lassen. Es spielt im französi schen Geistesleben eine geringe Rolle; die Mystik des hl. Franz von Sales und schwärmerischer adliger Frauenzirkel hat in der Kunst keinen starken Niederschlag gefunden, selbst die hier nach dem Bündnis Heinrichs IV. mit dem Papst sehr erfolgreich tätigen Jesuiten vertraten eine durchaus welt freudige und kunstfreundliche Gesinnung. Nichtsdestoweniger erregte die religiöse Frage das Land und erschütterte den Bestand des Reiches in Ge stalt der protestantischen Reformation des Calvinismus, für den die Pariser Bluthochzeit der Bartholomäusnacht den Anfang des Endes bedeutete. Mit unerhörter Grausamkeit wurden die Reformierten, die Hugenotten, verfolgt, vertilgt oder des Landes verwiesen, und mit gleichem Ingrimm bekämpfte man die jansenistische Bewegung unter den Katholiken, die in Anlehnung an die Wiederbelebung der Augustinischen Lehren durch Jansen, Bischof von Ypern (1585-1636), den weltmännisch-höfischen jesuitischen Beicht vätern der Könige gegenüber eine strengere Religiosität verfochten. Die kirchliche Malerei nimmt demgemäß keinen großen Raum innerhalb des französischen Kunstschaffens seit dem 15. Jahrhundert ein. LOUIS LE NAIN (um 1593 bis 23. V. 1648). Wie die meisten bedeutenden französischen Maler des 17. Jahrhunderts stammen auch die drei Brüder Le Nain oder Lenain aus Nordfrankreich. Ihre Heimatstadt ist Laon, wo die beiden älteren den kurzen Unterricht eines unbekannten niederlän dischen Malers genossen haben mögen. Über ihr Leben weiß man sehr wenig. Sie sind alle drei unvermählt geblieben und haben sich gegenseitig als Erben eingesetzt. In Paris findet man sie seit 1629 erwähnt, aber ihre frühesten be kannten Arbeiten sind erst kurz vor 1640 entstanden; ihr Jugend werk ist verschollen. Die Brüder sind noch kurze Zeit Mitglieder der 1648 gegründe ten Königlichen Akademie, scheinen aber mit ihren Arbeiten niemals großes Ansehen erlangt zu haben; Liebhaber, Sammler und Museen haben ihre stille Kunst erst viel später entdeckt. Da sie ihre Bilder in Werkstattgemein schaft schufen und - wenn überhaupt - nur mit „Lenain“ ohne jeden Vor namen signierten, zudem auch selten datierten, so konnte die Urheber schaftsfrage nur durch eine Wahrscheinlichkeitsbestimmung gelöst werden. Danach gilt der älteste, Antoine Le Nain, gen. l'An, also der Erstgeborene (um 1588-1648; er starb zwei Tage nach Louis), als der Maler von acht kleinen, farbenprächtigen Gruppenbildnissen auf Kupfertafeln, die sich im Louvre, in der Londoner National Gallery und in englischem, amerikani schem und französischem Privatbesitz befinden. Dargestellt sind meist ein fache, aber behäbige und wohlhabende Bauern, die in Stillebenhafter Ruhe würdevoll mit munteren Kindern beisammensitzen, ein Tischgebet sprechen oder musizieren, wobei der Raum karg angedeutet oder nur als dunkler Hintergrund gegeben wird. Der spätgeborene Mathieu Le Nain mit dem Beinamen „le Cadet“, also der Jüngste (1607-1677), der seine Brüder um fast drei Jahrzehnte überlebte, hat wahrscheinlich im Alter Paris verlassen. Die unbefangen gruppierten Personen seiner Bilder leben in einer etwas eleganteren Umwelt, beispielsweise die „Tricktrack-Spieler“ von etwa 1650 und die „Versammlung von Kunstfreunden“ von etwa 1643 (beide im Louvre), die „Tanzstunde im Freien“ aus den fünfziger Jahren, die „Mahl zeit einer Familie“ und die „Wachtstube“ von 1643, die sich ebenso wie die späte „Anbetung der Hirten“ (1674) in Pariser Sammlungen befinden. Louis Le Nain mit dem Beinamen „Le Romein“, d. h. der Römer, ist sicherlich der bedeutendste der drei Brüder. Es ist zwar nicht nachweisbar, ob er wirklich, wie sein Beiname besagt, in Rom gewesen ist, aber ein in italienischer Art gebautes Bauerngehöft auf seinem Bild „Bauern vor ihrem Hause“ im Museum in Boston und italienische Typen auf diesem wie auf anderen Gemälden, vor allem der stimmungsvollen „Rast eines Reiters“ im Victoria and Albert Museum in London, machen es wahrscheinlich, daß er etwa in den dreißiger Jahren, vielleicht mit seinem Bruder Mathieu, in Rom war. Auch Beleuchtungseffekte, wie sie Caravaggio und besonders seine