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lung entsteht durch eine Bewegung, die in die Massen gekommen ist, ein Hohlraum unter den schattenwerfenden Wolken, auf denen Christus und Maria, segenspendend und die Menschen Gott empfehlend, hernieder schweben. Andächtig staunend haben sich die Frauen auf die Knie nieder gelassen, und auch die Männer scheinen ergriffen. Aber es klingt in dem Bilde ein eigentümlicher, weltlicher Ton mit, wie er im Manierismus sonst nicht gehört wurde. Ganz rechts dreht ein Mann aus dem Volke seinen Leierkasten und summt dabei vor sich hin, und ein fast nackter Bettler unter hält sich mit ihm. Der Volkston dieser Genreszene schwingt weiter: ein bär tiger Mann blickt lächelnd von seinem Gebetbuch weg auf den Musikanten, und eine madonnenhafte Bäuerin im Kopftuche, die neben ihrem Markt korb ihr Kind auf dem Arm trägt, wendet sich in seliger Träumerei eben falls der irdischen Musik zu. Ihr Kind lauscht und starrt ganz hingerissen und preßt dabei das Fäustchen vor den Mund. Vergebens sucht eine andere junge Mutter auf der linken Seite ihren Knaben auf die göttliche Erschei nung hinzulenken, er faltet gehorsam die Händchen, aber Auge und Ohr und sein bezauberndes Lachen gehören dem Musikanten. Weiter links greift ein Kind keck über die Schulter der Mutter hinweg in das Buch einer knienden jungen Frau, um einige Seiten herauszureißen. Der einzelnen Ge stalt und ihrer plastischen Form schenkt der Künstler wenig Beachtung, weich verschmelzende Farben verwischen vielmehr den Kontur, und die Lokaltöne der Stoffe verfärben sich in den Lichtern und Schatten. Das rotbraune Fleisch der Männerkörper bekommt im Halbschatten bläuliche Schillertöne, der zarte helle Fleischton der Frauen, der Kinder und der Christusfigur erhält in den beschatteten Stellen einen rosigen bis tiefroten Schimmer. Ausdruck und Haltung der zarten und schönen Frauen Baroccis, die oft an Correggios Madonnen und Heilige erinnern, sind, ohne je zu Süßlichkeit zu entarten, wunderbar beobachtet und festgehalten. Michelangelo da Caravaggio: Bacchus. Florenz, Uffizien MICHELANGELO DA CARAVAGGIO (28. IX. 1573 bis 18. VII. 1610). Der nach seinem zwischen Mailand und Bergamo gelegenen Geburtsort Caravaggio benannte Maler, der eigentlich Michelangelo Merisi hieß, wurde im April 1584 auf vier Jahre zu einem in Mailand tätigen Tizian schüler in die Lehre gegeben. Die Stadt, in der die Schule Leonardos bald nach des Meisters Wegzug abgestorben war, schien auf künstlerischen Zu strom von außerhalb angewiesen. Dieser kam in der zweiten Jahrhundert hälfte vor allem aus Cremona, während über Bergamo, aus dessen Nähe Caravaggios Lehrer stammte, auch venezianische Einflüsse eindrangen. Um oder bald nach 1590 kommt der junge Künstler nach Rom, wo er zunächst mit Hilfsarbeiten in fremden Werkstätten nur kärglichen Verdienst findet. Nach entbehrungsreichen Jahren wird er entdeckt und von Fürsten und reichen Kardinälen gefördert, die ihm große Aufträge für römische Kirchen ver mitteln. Fast jedes seiner kirchlichen Werke erregt jedoch wegen seines krassen Naturalismus einen Skandal. Seine Bilder werden von den Be stellern empört zurückgewiesen, von Kunstsammlern dagegen lebhaft begehrt und gekauft. Wie in seinem Schaffen zeigt sich Caravaggio auch in seiner Lebensführung als rücksichtslose Kämpfernatur, die sich durchsetzen muß. Er ist ein jähzorniger, unsozialer Mensch, ein gewalttätiger Raufbold, der in der übelsten Gesellschaft verkehrt und dauernd mit den Gesetzen in Kon flikt gerät. Immer wieder haben sich die römische Polizei und die Gerichte mit ihm zu befassen, mehrmals wird er verhaftet und eingesperrt. Raufereien mit seinen Zechkumpanen und Anrempelungen auf der Straße, bei denen er sogar zu Dolch und Pistole greift, sind an der Tagesordnung. Einmal wirft er dem vorlauten Piccolo in einer Schenke die heiße Schüssel ins Ge sicht, ein andermal schlägt er seiner Wirtin, die sich für unbezahlte Miete an seinen Sachen schadlos gehalten hat, als er wegen einer blutigen Schläge rei nach Genua hatte flüchten müssen, die Läden ein. Schließlich, am 31. Mai 1606, wird er gar zum Mörder oder Totschläger. Beim Ballspiel gerät er in einen Streit und erschlägt einen Mann, worauf er, selber schwer verletzt, endgültig Rom verlassen muß. Vergebens wartet er in der Nähe auf die Fürsprache mächtiger Gönner, dann geht er nach Neapel, wo er neue Aufträge findet, kann aber auch hier nicht lange bleiben. In Malta wird er 1608 zum Ritter des Malteserordens geschlagen, bekommt jedoch gleich falls Streit mit einem Ordensritter und flieht nach Sizilien. Im nächsten Jahre führt er in Messina, Syrakus und Palermo mehrere bedeutende Altäre aus, reist dann in der Hoffnung auf Begnadigung zunächst wieder nach Neapel, wo er einer bewaffneten Bande in die Hände fällt und halbtot ge schlagen wird. Nach seiner Wiederherstellung packt er seine Habseligkeiten auf eine Barke und fährt nach Rom, wird aber infolge einer Verwechslung in Porto d’Ercolo verhaftet. Als er freigelassen wird, ist das Fahrzeug mit seinen Sachen verschwunden. Am Strand umherirrend, zieht er sich ein Fieber zu, dem er erliegt, während seine Begnadigung bereits unterwegs ist. Als sein erstes selbständiges Werk wird der von uns wiedergegebene „Bac chus“ in den Uffizien (98 x85 cm) angesehen. In frecher Aufdringlichkeit bietet sich die große rosige Fläche des feisten Körpers dar, dessen rundliche Schwellungen sich in hartem Umriß von dem farbenkräftigen Hinter grund abheben. Höchst raffiniert ist das Spiel und Gegenspiel der großen und kleinen, vollen und halben, kreisförmigen und elliptischen Rundungen des Körpers und des Gesichtes, der Weinflasche, des Weinglases, der Frucht schale, der Äpfel, Birnen, Feigen und Trauben und demgegenüber die Scharfkantigkeit der ausgezackten Weinblätter und die Hartlinigkeit der Faltenbrüche des Tuches. Die stilisierende Absicht des Künstlers ist trotz naturalistischer Schilderung nirgends zu verkennen. Tote Gegenstände sind verlebendigt, lebende erstarrt. Ein Stilleben ohne menschliche Figur hat Caravaggio um die gleiche Zeit in einem kleinen Bild vor hellem Grund gemalt (Mailand, Biblioteca Ambrosiana), und als Beiwerk wie im „Bac chus“ erscheinen Stilleben häufig in anderen Halbfigurenbildern der ersten römischen Jahre. Auffallend ist bei einer Gruppe solcher Gemälde die Un klarheit über das Geschlecht der Dargestellten; auch der Bacchus unseres Uffizien-Bildes mit seiner rosigen Hautfarbe hat diesen zwitterhaften Zug. Frisch und keck aus dem Leben gegriffene Szenenbilder mit Halbfiguren, wie die in zwei Fassungen erhaltene „Wahrsagerin“ (Paris, Louvre, und Rom, Museo Capitolino) und der „Falschspieler“ (Paris, Privatbesitz), die als Themen und in der lebendigen Art der Auffassung etwas ganz Neues für die römische Kunst darstellten, haben stärksten Eindruck auf die Zeit genossen gemacht und sind trotz heftigster Ablehnung durch die älteren