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der Maler der Fürsten und ein Fürst unter den Malern, genußfroh, reich und in glänzenden Verhältnissen lebend, dabei stets geld- und ruhmsüchtig - ein echter Renaissancemensch und -künstler, der an der hohen Idealität seiner Kunst und der klaren harmonischen Schönheit von Form und Farbe fest hält, auch wenn er im Alter den ausgewogenen Bildaufbau auflockert und „barock“ wird. Ihm gegenüber Tintoretto, in bescheidenen Lebensumstän den, schlicht und einfach, unbeirrbar in seinem künstlerischen Wollen, das nur seelischem Drang, wenn nicht gar seelischer Bedrängnis gehorcht und sich nicht von äußeren Dingen abhängig macht - als Künstler und als Mensch der Repräsentant einer tiefernsten Zeit religiöser Erneuerung, ein von großem Mitleid mit der leidenden Menschheit erfüllter glaubensstarker Christ, dem die Kunst Gottesdienst bedeutet. Ist bei Tizian die künstlerische Absicht ganz auf die Er höhung des Daseins- und Lebensgefühls gerichtet, so zeigt sich bei Tintoretto in der Loslösung der Farbe vom Gegenstand und in der Ent thronung der menschlichen Körperschönheit der tiefe Gesinnungswandel von der Weltbejahung eines golde nen Zeitalters zum weltflüch- tigenjenseitskult eines stren gen Kirchenregimentes. Uber Tintorettos Leben läßt sich nur wenig aussagen. Außer einigen Daten von Bil dern und anekdotenhaft aus geschmückten Berichten ist nicht viel bekanntgeworden. Man erfahrt, daß er zurück gezogen lebte, philosophi sche Gespräche mit Geist lichen führte, sehr musika lisch war und, wie man es allen großen Künstlern an dichtete, ungemein schlag fertigsein konnte. Man kann keinen der bedeutenden Mei ster Venedigs als seinen Leh rer nachweisen, vielmehr spricht manches dafür, daß er bei einfachen Handwer kern in die Lehre gegangen ist. Als selbständiger Meister ist er seit 1539 bezeugt, das früheste datierte Bild, das sich erhalten hat, „Apollo und Marsyas" (1545; Davenport, Privatbesitz), ist im Auftrage Pietro Aretinos gemalt worden, mit dem er befreundet war. Der gefürchtete Kritiker und die übrigen Zeit genossen Tintorettos empfanden die skizzenhafte Behandlung der Körper form in vielen seiner frühen Gemälde als Flüchtigkeit und Nachlässigkeit, zumal er seine Bilder in erstaunlich kurzer Zeit fertigstellte. Motive aus der alten Mythologie, bei denen der junge Künstler auch ver fängliche Situationen nicht scheut, wechseln in dieser Frühzeit mit Darstel lungen aus dem Alten und Neuen Testament und aus der Heiligenlegende ab, denen er ganz neue Fassungen zu geben versucht. Der dramatischen Kom position und der Erzielung einer zunächst noch beschränkten Tiefenwirkung gilt seine besondere Aufmerksamkeit; daneben aber bemüht er sich auch um rein dekorative Lösungen. Mit dem hier wiedergegebenen „Wunder des hl. Markus“ in der Accademia zu Venedig (4,15X 5,45 m), das er für den Sitzungssaal der Scuola Grande di S. Marco malt und dort im April 1548 öffentlich ausstellt, ist seine noch unsicher tastende Jugendentwicklung zu einem vorläufigen Abschluß gelangt, und zwar in einer Weise, die nach der Skizzenhaftigkeit mancher Werke überraschen mußte. Die lebensgroßen Figuren sind jetzt durch ein scharf einfallendes Licht plastisch kräftig durch geformt, fest umrissen und klar gegeneinander abgesetzt, auch wo sie sich vielfältig überschneiden. In starke Schatten getauchte Figuren und Gruppen lassen die grell beleuchteten Personen um so auffälliger hervortreten. Mit zwingender Gewalt wird der Blick des Betrachters, durch energische Linien geleitet, auf die Hauptträger der Handlung gelenkt, zunächst auf den Evan gelisten Markus, den Schutzpatron Venedigs, der, im Sturzflug vom Him mel heruntergesaust, urplötzlich in glaubhaft gemachter Schwebelage halt macht und, von niemand bemerkt, dem Martyrium Einhalt gebietet, das an dem nackt am Boden liegenden römischen Sklaven vollzogen werden soll. Die Marterinstrumente zersplittern den Henkersknechten, die sich am Kopf und an den Füßen des Sklaven zu schaffen machen, und der dritte Scherge zeigt die zerbrochenen Werkzeuge mit heftiger Gebärde dem rechts thronen den Richter, der mit allen Zeichen des Entsetzens auffährt und hinunterstarrt, während seine Leute sich vorrecken, um deutlicher zu sehen, zurückweichen oder sich ducken; auf der linken Bildseite begleitet eine ent sprechend aufgetürmte neu gierige Zuschauermenge das Wunder mit erregten Gesten. Michelangelos Figurenzeich nung, Körperplastik und Be- wegungskunst und Tizians leuchtende Farbigkeit sind hier in einer Weise vereinigt, ja gesteigert worden, die bei den Zeitgenossen ebensosehr Bewunderung wie Ableh nung erfuhr. Man erzählte sich, daß der Künstler über die Tür seines Arbeitsraumes die Worte geschrieben habe: „II disegno di Michelangiolo e il colorito di Tiziano“, d. h. „Michelangelos Zeichnung und Tizians Farbigkeit“. Je denfalls zeigt uns das Bild deutlich, daß es in der jun- genGeneration des Manieris mus Künstler gab, die zwar das ruhige Gleichmaß der Hochrenaissance ablehnten, aber durchaus nicht zu mit telalterlichen Formgesetzen zurückzugreifen wünschten, vielmehr der letzten Ent wicklung der großen Renais sancemeister nacheiferten. Farbig und kompositionell ist das Gemälde meisterlich ausgewogen. Der Hauptvorgang ist in das Zentrum gelegt. Wie ein zuckender Blitz geht eine Zickzacklinie von oben durch die Bild mitte hindurch, von den zum Teil noch außerhalb des Bildes liegenden Füßen des Heiligen durch seinen Körper bis zum Kopf, dann nach rechts springend seinen rechten Arm entlang auf den turbangekrönten Kopf des stehenden Schergen und über die scharf wieder nach links biegenden Fal ten des Gewandes hinüber auf die nackten Beine und Arme des sich bücken den Henkers, schließlich den Körper des Märtyrers entlang am Boden hin kriechend und in die Beine des knienden Knechtes auslaufend, dessen Fuß wieder vom Bildrand überschnitten wird. Nach rechts und links aber bran den die Wogen in einander entsprechenden Kurven über die Köpfe und Glieder der Zuschauer hinweg, um nach den Bildrändern hin abzuklingen. Der ganze kunstvolle Aufbau des Bildes ist der rechnend komponierenden Schaffensweise eines echten Renaissancekünstlers durchaus würdig. Aber das Bild enthält auch viele manieristische Züge. Die dramatische Zuspitzung ver führt den jungen Meister zu äußerlicher Theatralik, die besonders in den schraubenartig gedrehten Stellungen einiger Personen zum Ausdruck kommt. So trefflich die Muskulatur der nackten Arme und Beine sowie des einen ganz nackten Körpers durchmodelliert und die Beweglichkeit dermensch- Jacopo Tintoretto: Wunder des hl. Markus. Venedig, Accademia