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Die schweren Erschütterungen, die das 16. Jahrhundert politisch und welt anschaulich erlebt, lassen die Kunst nicht unberührt. Erstaunlich ist, wie schnell die Maler religiöser Bilder von dem Gesinnungswandel erfaßt wer den. Aber nicht nur im Inhaltlichen, auch im eigentlichen künstlerischen Gestalten und in formalen Einzelheiten wird diese Wandlung spürbar. Die großen Meister der Renaissance hatten den Malern die Beherrschung aller Ausdrucksmittel in die Hand gegeben, hatten sie durch ihr beispielhaftes Schaffen befähigt, das Höchste und Tiefste in vollendeter Schönheit und Har monie zu bilden, hatten Gesetze des Bildaufbaues und der Farbkomposition geschaffen, die Perspektive, die Proportionen und die farbigen Abstufungen zu erlernbaren Systemen ausgebildet. Im Festhalten des flüchtigsten Augen blickes, in der Schilderung der innersten Seelenzustände und im Sichtbar machen visionärer Erscheinungen hatten sie eine Höhe erreicht, die keiner Steigerung mehr fähig schien. Aber die nachfolgenden Generationen ver suchen alsbald, die Kunst der Renaissance noch zu übertrumpfen. Die Kunst geschichtsschreibung, die die Errungenschaften der Renaissance als Höchst leistungen wertet, ist zu dem Ergebnis gekommen, daß dieser Versuch kläg lich gescheitert ist. Man hat den Äusklang und die Nachfolge der Renaissance als „manieristisch" bezeichnet, was besagen sollte, daß man die ganze Rich tung als Künstelei, als Entartung empfand. Seit einem Jahrzehnt jedoch be urteilt man diese Übergangskunst richtiger aus dem Geist der Epoche, und wenn auch die Ansichten über Umfang, Bedeutung und charakteristische Merkmale des „Manierismus“ noch auseinandergehen, so wird heute doch fast allgemein diese Kunstentwicklung als eine beachtliche gesamteuro päische Zeiterscheinung zwischen Renaissance und Barock gewertet; das Wort „Manierismus“ gilt nicht mehr nur in tadelndem Sinn. Zweifellos fehlen dem neuen Stil anfangs die bedeutenden Persönlichkeiten, und ebenso ist zunächst eine einheitliche Linie nicht sichtbar. Die großen Meister der Renaissance, die die Krise der Zeit um 1520 noch erleben, Raffael, Michel angelo, Correggio, Tizian, hatten das ruhevolle Gleichmaß der Hochrenais sance, die Klassik, in ihren letzten Werken bereits verlassen und damit die ausdrucksstärkere, innerlich erregtere Bewegungskunst des Barock vorbe reitet; eine wesentliche Wurzel der Richtungsänderung sahen wir schon in dem Wandel des Zeitgeistes zu neuer Religiosität. Diese letzte Entwicklungs stufe, besonders Michelangelos, gilt einigen Künstlergruppen der Krisen zeit als nachahmenswertes und noch überbietbares Vorbild. Andere wenden sich offensichtlich von dem klassischen Ideal der Renaissancekunst ab und kehren, wie sich die kirchlichen Kreise erneut der mittelalterlichen Schola stik und der strengen Dogmengläubigkeit in die Arme werfen, wieder zu der gefühlstrunkenen Gesinnung der Gotik und zu ihren Ausdrucksmitteln zu rück. Sie zerstören die edle Harmonie des Bildaufbaues und füllen wieder die Vordergründe mit flächenhaft angeordneten Figuren, sie verleugnen die Errungenschaften des malerisch-farbigen Sehens und benutzen wieder die Lokalfarben des Mittelalters, sie mißachten Perspektive und Proportionen und bevorzugen die „gotisch“ gestreckten Leiber, die feingliedrigen Hände, die schmalen, zarten und kleinen Köpfe. Beide Richtungen, ob sie nun, Michel angelos letzte Stufe nachahmend, sich in Übertreibungen verirren oder ob sie in bewußter Auflehnung gegen die Klassik auf die Formensprache der Gotik zurückgreifen, opfern die schlichte Natürlichkeit und Klarheit einer unruhigen Flächenfüllung. Die Übersichtlichkeit eines dargestellten Vor ganges leidet unter der Überzahl der Figuren, die aus rein dekorativen Ab sichten jetzt auch einem stillen Motiv zugefügt werden, wie etwa der Heim suchung, der Begegnung zweier schwangerer Frauen, denen ihr Zustand geheimnisvoll offenbar wird. Allegorische Figuren stören die Bildeinheit, die eigentliche Szene wird in die Tiefe, ja womöglich in eine ferne Ecke gerückt, der Wert der einzelnen Figur, ihre Leiblichkeit und Körperschön heit werden gering geschätzt, ihre Standfestigkeit zugunsten eines gewicht losen, unbestimmten Schwebens aufgegeben. Wenn man in Bildern dieser Art einen nackten Körper bemerkt, der in stärkster Verkürzung aus der vordersten Bildfläche tief in die Szene hineinragend dargestellt wird, so ge winnt man den Eindruck, daß der Künstler damit nur zeigen will, wie gut er den Akt beherrsche. Aber die Unsinnlichkeit dieser Körper erweist, daß diese lebensunfrohe Zeit Sinnlichkeit und Bildschönheit als Götzendienst empfand. Es ist das Jahrhundert, in dem Michelangelos Akten im „Jüngsten Gericht“ Hosen und Tücher angemalt werden und in dem das Feigenblatt erfunden wird. Bezeichnend ist, daß jetzt eine heimliche Erotik zutage tritt, die sich in durchscheinenden oder eng anliegenden Stoffen über kaum ver borgenen Körperformen oder in halben Enthüllungen äußert. Dennoch vermag man sich dem Reiz solcher Darstellungen, die mit virtuosem Kön nen und raffiniertem Feingefühl geschaffen sind, oft nicht zu entziehen. Der Manierismus ist, wie wir schon gesehen haben, von Anfang an keine ganz einheitliche Stilrichtung, er macht in seinem Ablauf Wandlungen durch und wird ebenfalls durch örtliche Einflüsse verändert; das hat es erschwert, ihn als einen Sonderstil zu erkennen. Er bleibt nicht auf Italien beschränkt, breitet sich vielmehr über Frankreich und vor allem die Niederlande aus und ist gleichfalls in den deutschen Ländern wirksam. In Spanien repräsen tiert ihn in einer außerordentlichen Spätblüte eine der glänzendsten Per sönlichkeiten der Stilepoche, der aus venezianischer Schulung kommende Kreter Domenikos Theotokopulos, genannt el Greco (1541-1614). In Vene dig selbst gipfelt der Stil in zwei ganz großen Persönlichkeiten: Jacopo Tin- toretto und Paolo Veronese, mit denen unsere Darstellung beginnt. Hatte der Manierismus die folgerichtige Entwicklung des Renaissancestiles unterbrochen, so mehren sich um 1590 die Anzeichen einer Wiederanknüp fung und Neubildung. Frische Kräfte treten auf den Plan, um ein neues Zeitalter der Kunst zu verkünden. Wieder ist es eine allgemeine geistige Wandlung, die diesen neuen Stil heraufführt. Der im Norden Europas vollzogene Abfall von der Kirche beeinflußte auch die kulturelle Entwick lung in den katholisch gebliebenen Ländern. Die neuen Erkenntnisse der exakten Naturwissenschaften, der Astronomie, der Physik und der Medizin, die Ergebnisse der Erderforschung und die Aufstellung philosophischer Lehrgebäude mußten an Dogmen der Papstkirche rütteln und den Vorrang theologischer Anschauungen streitig machen. Das tätige Wirken des Staats bürgers auf Erden legte auch dem Künstler wieder irdische Themen nahe. Einschneidende politische und kirchliche Ereignisse um 1590 bereiten die Wiederverweltlichung der Kunst, die der Barockstil bringt, vor. Die „aller katholischste Majestät“, König Philipp II. von Spanien, die treibende Kraft des Papsttums in seinem mörderischen Kampf gegen alle Ketzerei, erleidet in neu entfesseltem Ringen um die europäische Vorherrschaft Schiffbruch. Es ist ein Schiffbruch im eigentlichsten Sinne: Spaniens stolze Flotte, die „Armada“, zerschellt 1588 im Sturm und im Kampf mit der Flotte Eng lands. Papst Sixtus V. (1585-1590) aber knüpft mit Philipps erbittertstem Feinde Beziehungen an, mit Frankreich, wo gerade die calvinistische Re formation mit dem neuen Königsgeschlecht der Bourbonen zur Regierung gelangen will. Er und der neue französische König Heinrich IV., der Führer der calvinistischen Hugenotten, erkennen den Vorteil der Weltlage und ver bünden sich. Heinrich tritt zur katholischen Kirche über und erklärt 1595 Spanien den Krieg. Diese Händel ziehen die schnell aufeinanderfolgenden Päpste tief in den Strudel des Weltgeschehens hinein. Ihre Interessen gelten fortan nicht mehr allein oder vornehmlich der Wahrung der Dogmen. Da mit weicht der Alpdruck der strengen Kirchlichkeit aus allen geistigen Be zirken, und die Kunst kann sich frei und ungehemmt entfalten. Italien geht wieder voran, aber mit größter Schnelligkeit verbreiten sich die neue Lebens auffassung und der neue Kunststil, der der Baukunst, Bildnerei und Malerei neuen Auftrieb gibt, über alle Länder Europas. JACOPO TINTORETTO (Oktober 1518 bis 31. Mai 1594). Als Sohn eines Färbers (ital. tintore) wurde Jacopo Robusti, gen. il Tintoretto, d. h. der kleine Färber oder der Färbersohn, in Venedig geboren. In der starken künstlerischen Tradition seiner Vaterstadt, deren Umkreis er kaum auf längere Zeit verlassen hat, ist er zum Vollender des Manierismus heran gewachsen. Die Kunst der Lagunenstadt war der Stilkrise von 1520 nicht all gemein verfallen. Die überragende Persönlichkeit Tizians rettete die Ideale der venezianischen Renaissancemalerei, ihren wunderbaren Farbenschmelz und ihre lyrisch-undramatische Zustandsschilderung, über die Krisenzeit hinaus und wandelte sie erst kurz vor der Jahrhundertmitte unter dem Ein druck der mittelitalienischen Bewegungskunst, die sich von Rom aus über ganz Italien ausbreitete, zu einer zunächst maßvollen dramatischen Gestal tungsweise ab. Zu stärkerer und schließlich zu leidenschaftlichster Dramatik wird er gedrängt, als er in Rom die Sixtinische Decke Michelangelos gesehen hat und als etwa zur selben Zeit der erst dreißigjährige Tintoretto, gleichfalls von Michelangelo beeindruckt, mit seinem „Markuswunder“ die Gemüter der venezianischen Künstler in Erregung versetzt. Der Gegensatz in der Kunst- und Lebensauffassung der beiden über ein Vierteljahrhundert neben einander schaffenden größten Maler Venedigs war auch den Zeitgenossen schon aufgefallen und erzeugte einen Kranz von Künstlerlegenden. Tizian,