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Georges Bizet und seine L'ArIesienne-Suiten Der zu den genialsten Komponisten der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts in Frankreich zählende Bizet begründete seinen Weltruhm mit der Oper „Carmen", die am 3. März 1875 in der Pariser Opera comique vor ablehnendem Publikum uraufgeführt wurde. 1863 war die Bühnenmusik zu Alphonse Daudets Drama „L'Arläsienne" („Die Arlesierin") entstanden. Das Arrangement für großes Orchester (1. Suite 1872, 2. Suite von Ernest Guiraud nach der Fassung von 1875 zusammengestellt) wurde im Rahmen der Concerts Pasdeloup aufgeführt. Diese Musik brachte dem Komponisten schon zu Lebzeiten begeisterte Anerkennung. Zweifellos stand sie in ihrer strahlenden Schönheit den Franzosen besonders nahe, ist hier doch die Atmosphäre der Provence rund um Arles mit ihrer Lieblichkeit und ihrer strahlenden Sonne ausdrucksstark eingefangen. Das Finale der ersten Suite ist der berühmt gewordene „Carillon", ein fröhlich-lebhaftes „Glockenspiel", während die „Farandole" den Schluß der zweiten Suite als Höhepunkt beider Kompositionen gelten kann. Dieser leidenschaftliche Volkstanz („Tanz des verrückten Pferdes") mit seiner überschäumenden Freude ist den provencalischen Tamborinspielern abgelauscht. der grausames Schicksal: Bei der Uraufführung Sinfonie sitzt der Komponist mitten unter den ■F* Welch seiner Musikern, ein alter Mann, dessen ergraute Haare ihm in dichten Strähnen in die Stirn fallen. Er scheint das Konzert in seiner Partitur zu verfoigen. Doch der Schein trügt. Bei Satzende muss ein Mann zu ihm treten und ihm auf die Schulter klopfen, damit er sich beim Publikum für den tosenden Beifall bedankt. Der Tonsetzer, einer größten der Musikgeschichte, hört die Ovationen nämlich nicht, die ihn überschütten. Er ist fast taub: Es ist Ludwig van Beethoven, der am 7. Mai 1824 der ersten Aufführung seiner 9. Sinfonie im Wiener Kärntnertor-Theater beiwohnte. Die Verzweiflung des 54jährigen Komponisten ob seiner Taubheit ist ein Gemeinplatz. Entrückt, der realen Welt entfremdet, nichts trügt mehr als diese Vorstellung von einem Mann, der die politischen Entwicklungen mit wachsender Erbitterung registrierte und den Zustand der Welt in seinen Werken metaphorisch spiegelte. Der einstige Anhänger Napoleons hatte mit fürchterlichen Enttäuschungen zu kämpfen. Sein Heros hatte nach und nach alle seine Ideale verraten und sich zusehends selbst diskreditiert. Schließlich Ludwig van Beethovens „Neunte” (Aus „Apotheose der Verzweiflung“ von Micaela von Marcard) rannte er ins Verderben und riss ganz Europa mit. Doch auch der Wiener Kongress, diese Versammlung der wichtigsten Staatsmänner, brachte nicht den ersehnten Fortschritt, sondern nurmehr Restauration. „Eine absurde Welt, der man mit dem besten Willen die Ohren nicht aufthun kann", urteilt der Komponist, der jedoch nicht weghören und wegsehen kann, sondern sich dem Sinn der Existenz immer wieder stellt. Die 9., als letzte große Sinfonie des Komponistenfürsten, zieht einen Schlußstrich unter alle seine Erfahrungen. Thema nach Thema erscheint zum Teil in fremden Zusammenhängen. Schillers „Ode an die Freude" z.B. war 1786 erschienen, und bereits 1793 liebäugelte Beethoven mit einer Vertonung dieser Verse. Der Aufbau der Sinfonie entwickelt sich aus der Konzeption des letzten Satzes. Ein hymnischer Lobgesang sollte er werden, der vom rein instrumentalen Bereich in den vokalen hineinwächst. Eine Sprengung der Gattungsgrenzen war dem Komponisten mit seinem letzten Satz allemal gelungen. Die kongeniale Vermischung von Sinfonik mit chorischem und solistischem Gesang fand erst viel später Nachahmer. Die Flucht nach vorn aus der Hoffnungslosigkeit in die Utopie vollzieht sich in diesem Satz, als Appell gegen die Resignation ein immer aktuelles Thema. Sinnbild ist die Schicksalsfanfare, mit der der letzte Satz eingeleitet wird. „Freude schöner Götterfunken, Tochter aus Elysium..." beschwören Musik und Wort mit einem gewaltigen orchestralen und chorischen Einsatz. Nach der Uraufführung seiner 9. Sinfonie verblieben Beethoven noch knapp drei Jahre. Am 26. März 1827 ist der Lebensfaden endgültig zerrissen. Was bleibt, ist die Unsterblichkeit.