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ZUR EINFÜHRUNG fremdete sie z. B. mit chromati- Aufführungsdauer: sehen Eintrübungen, zerlegte seine ca. 60 Minuten melodisch gebundenen Motive in kleinste Partikel, rhythmisierte sie neu und entwickelte sowohl hart schlagende als auch weich klin gende Episoden, die in einen Kon text gebracht, die Besonderheit, die Individualität seiner Musik aus machen. Oft zeigte sich der Kom ponist in seinen Werken ironisch satirisch, nahezu sarkastisch und mit einem bis zur Groteske rei chenden Humor, dann wiederum lyrisch-empfindsam oder heiter vergnüglich, immer aber so maß voll gebändigt, daß seine eigene humanistisch-ethische Haltung ge wahrt blieb. Schostakowitsch kam aus der musikalischen Tradition Mussorgskis, dessen Realismus vor allem die Körperhaftigkeit der Mu sik aufgezeigt hatte und wollte den „Ton" Gustav Mahlers treffen, mo dern sein, ohne modernistisch zu wirken. Diese Haltung prägt seine Musik bis zum letzten Ton. Schostakowitsch gehörte zu den Komponisten, die alle Genres be dienen können. Er liebte sowohl die kleine, kammermusikalische Form und bedachte sie reich. Er komponierte exzellente Klaviersa chen - u.a. auch für Kinder -, war aber ebenso in den großen sinfoni schen, vokalsinfonischen und thea tralischen Formen mit großer Sicherheit und absolutem Selbstver ständnis tätig. So sind allein 15 Sin- I fonien entstanden, ein CEuvre ohne ¬ gleichen. Und in zwei dieser Sinfo nien, seinen späten, sind Vokalteile eingebettet, so in seiner, heute er klingenden 13. Sinfonie op. 113 aus dem Jahre 1962 und in der kantatenhaften 14. Sinfonie (1969) für Sopran, Baß, Streicher und Schlagzeug. Ganz natürlich stellt sich bei einer solch vokalsinfoni schen Form der naheliegende Ver gleich zu Gustav Mahlers Intentio nen her. Auch Schostakowitsch wollte durch das begriffliche Wort verdeutlichen, was Musik allein nicht vermag. Er wollte gerade in diesen beiden Werken mit allem Nachdruck seine eigene Haltung offenbaren, wie es ihm in der Stalinzeit nicht möglich war, wollte das anprangern, was ihm auf der Seele brannte. Das aber betraf einen ganzen Komplex zu Fragen seiner Zeit, politisch-ideologischen und zwischenmenschlichen, die im totalitären stalinistischen Gebilde verdrängt oder tabuisiert worden waren. Der junge Protestlyriker Jewgeni Jewtuschenko hatte zu Beginn der 60er Jahre solche Verse verfaßt, die den Komponisten förm lich ansprangen, ihm künstlerische Mittel in die Hand gaben für eine eigene Umsetzung. In Jewtuschen- kos Versen war Wort geworden, was Schostakowitsch noch 1960 und 1961 im achten Streichquar tett („Zum Gedenken der Opfer von Faschismus und Krieg") und in der 12. Sinfonie rein musikalisch umschrieben hatte. Der Komponist aber ahnte nicht - oder vielleicht doch? -, daß auch in der Sowjet union von 1962 die Zeit immer noch nicht reif dafür war, sich