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ZUR EINFÜHRUNG Viele kluge Köpfe haben sich im mer wieder damit beschäftigt, dem Phänomen Musik in all seiner Be deutung beizukommen, dem schöp ferischen Geist nachzuspüren, kom positorische Techniken und Stile zu untersuchen, die unterschiedlichen Wirkungsweisen auf die verschie denartigsten Menschen zu studie ren, alte und neuere Hörgewohn heiten zu ergründen und miteinan der zu vergleichen, schließlich auch Fragen zur Gestaltung von Konzert programmen aufzuwerfen. Denn zu jeder Zeit lebt der Mensch in seiner eigenen Gegenwart und kann, ja muß immer auf längst Ver gangenes zurückblicken und sich in irgendeiner Form damit ausein andersetzen, um sowohl Neues zu schaffen, als auch Altes einzube ziehen und nicht zu vergessen. Die Möglichkeiten dazu sind vielgestal tig gerade in der Kunstbetrachtung, -bewertung und -neuschöpfung. So stellt sich beispielsweise für den Musikausübenden immer wieder die Frage, wie man mit einem sehr viel älteren Originalwerk umgeht, spielt man es so, wie man heute glaubt, daß es geklungen haben könnte, oder erhält es ein neues Gewand (z. B. ein modernes Instru mentarium). Oder der Komponist fragt sich, ob er vielleicht heute doch noch so komponieren sollte, wie es ältere Meister taten oder ob er ganz neue Wege suchen sollte? Und tatsächlich ist immer wieder alles mögliche ausprobiert wor den. Aber ist denn Tradition nur Last, nicht auch Lust? Warum aber sollte es nicht möglich sein, ebenso historisch zu reflektieren, wie auch Vergangenes im Licht einer neue ren Zeit zu sehen oder zu brechen und daraus Neues entstehen zu lassen? Neue Musik entstand ja schließlich zu allen Zeiten. Aber immer gab es Auseinandersetzun gen, sobald sie dann auch neuar tig war, dem bisher Gewohnten nicht mehr entsprach. „Was haben sie denn da wieder gemacht", wur de sogar einst Beethoven gefragt. Und kann man sich heute über haupt vorstellen, wieviel Neues beispielsweise Mozart machte, und wie sehr er damit auf Unver ständnis stieß? Doch wir stehen etwas ratlos da. Können wir über haupt ein Mozartwerk heute wirk lich noch so hören, wie es seine Zeitgenossen erlebten, d. h. kön nen wir heute überhaupt noch er kennen, welche Besonderheiten und Neuheiten Anstoß erregten? In unserem Zeitalter wurde es dann besonders kraß, obwohl der über viele Jahrhunderte hinweg entstan dene harmonische und melodische Grundvorrat zwar bis in unsere Ta ge erhalten geblieben war, sich aber dennoch in seinem Bezie hungsgeflecht ständig erweitert hatte, schließlich auf- und ausein anderbrach und in völlig andere Bahnen gelenkt wurde, so daß neue Hörgewohnheiten zwangs läufig gebildet werden mußten, die den überkommenen diametral ge genüberstehen. Der Begriff „Avant gardismus" sollte sogar zum