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SächsischeStaalszellung den Freistaat Sachsen Staatsan?eiger für Erscheint Werktag» nachmittag» mit dem Datum de» Erscheinung»tage». Bezugspreis: Monatlich 3 Mark. Einzelne Nummern 15 Ps. Fernsprecher: Geschäftsstelle Nr. 21295 — Schriftleitung Nr. 14574. Postscheckkonto Dresden Nr. 2486. — Stadtgirokonto Dresden Nr. 140. Ankündigungen: Die 32 null breite Grundzeile oder deren Raum 30 Pf , die 66 mm breite Grundzeile oder deren Raum im amtlichen Teile 60 Pf., unter Ein gesandt 90 Pf. Ermäßigung auf Geschäftsanzeigen, Familiennachrichten u. Stellen- gesuche. — Schluß der Annahme vormittag- 10 Uhr. Zeitweise Nebenblätter: Landtags-Beilage, Verkaufsliste von Holzpflanzen auf den Staatsforstrevieren. Verantwortlich für die Redaktion: I. B.: Oberregierunzsrat Hans Block in Dresden. Nr. 253 Dresden, Donnerstag, 29. Oktober M5 Um die Klärung der Reichspolitik. Tie Sozialdemokratie fordert Reichstagsauslösung. Berlin, 28. Oktober. Ter Borstand der sozialdemokra tischen ReichStagssraktion trat heute zu Priisung der politischen Lage zusammen. Der Vorstand war einmütig der Auffassung, daß sich durch den Austritt der deutschnatioualcn Mister an der scharfen Opposition-st ellung der Sozialdemokratie gegen die Regierung Luther richts geändert hat. Der Anstritt der reutjchnationalen beweist nnr, daß es unmög lich ist, mit dieser Partei eine den deutschen Interessen entsprechende auswärtige Politik zn führen. Die Sozialdemokratie kann nicht daran denken, dir Deutschnationalen ans der Vcrant- ooriung zu entlassen und in diesem fieichstag den Vertrag von Locarno, in dem sie den großen Erfolg ihrer eigenen außenpolitischen Richtlinien erblickt, gegen die deutschnatio nalen Stimmen zu rati- sizieren. Sie sicht den geeigneten Weg znr Lösung der Krise in der Befragung des Volkes vermittels der Auslösung des Reichstags. Ter Frakttonsvorstand wird die Reichstags- srattion zum Freitag, den 6. November cin- derufeu, um zur Situation, insbesondere zur ssragc des Zusammentritts des Reichs- tags, Stellung z» nehmen. Ter Vorstand der sozialdemokratischen Reichs» iagssraktion beschäftigte sich am Mittwoch auch mit der Wirtschafts- und Finanzpolitik der Regierung. Er mißbilligte ins besondere, daß allgemeine Tteuermittel, die in erster Linie von der breiten Masse des werktätigen Volkes aufgebracht werden, zur Stützung großagrarischer und groß» industriellerUnternehmungen verwendet werden. Diese Verwendung ist um so bedenk licher, als sie ohne parlamentarische Genehmigung und öffentliche Kritik ersolgt. Ter Vorstand erhebt ferner gegen die Ab sicht Einspruch, daß öffentliche Mittel auch zurStiitzuug verkrachter Unternehmun gen des Reichslandbundes und damit zur Förderung dentschnationaler Parteizweüe verwendet werden fallen. * Der tommunistische Antrag auf Reichstagsauflösung. Berlin, 28. Oktober. Im Auftrage des Vorstandes der kom munistischen Reichstagsfraktion hat der Reichtagsabgeordnete Stoecker an den Vorstand der sozialdemokratischen Reichstags- siaktion folgendes Schreiben gerichtet: Am Dienstag hat unsere Fraktion die so fortige Einberufung des Reichstags ver langt. Diese Forderung hat der stellvertretende Präsident vr. Rießer abgelehnt mit der Begründung, daß die Erfordernisse des Artikel 24, Abs. 1 der Reichsverfassung nicht erfüllt seien. Da dieser Artikel vorsieht, daß ein Drittel der Reichstagsmitglieder die Einberufung verlangen muß, ersuchen wir Sie, unseren Antrag zu unterstützen, damit auf diese Weise das er- fordeiliche Drittel hergestellt wird und der Reichs tag sofort einberufen werden muß. Der S. P. D.-Dien st bemerkt dazu: Der Brief der kommunistischen Reichstags- staktion ist durch den Beschluß de« sozialdemo- kratischen Fraktionsvorstandes bereits über- holt. In diesem Beschluß heißt eS, daß die sozialdemokratische Fraktion am Freitag, den 8. November, sich u. a. mit der Einberu fung de- Reichstags befassen wird. Der Fraktionsvorstand legt auf vollzähliges Er scheinen der Fraktionsmitglieder Wert. Schon mit Rücksicht darauf war ein früherer Ter- »in für die Zusammenberufung der Fraktion un- zwcckmäßig, da der Reichstag-Präsident und sieben Fraktion-Mitglieder sich noch im Auslande befinden, während ein anderer Teil der Fraktion für die nächsten Tage be- timmte Verpflichtungen e ngegangen ist. Ls mußte deshalb allen Fraktionsmitgliedern die Möglichkeit gegeben werden, ihre Verpflichtungen wenigstens für den kommenden Freitag lösen zu önnen. Und dazu bedurste es einer bestimmten Frist. Die „Germania" fordert klare Entscheidung. Der Möglichkeit, daß unsere „nationale Opposition", wie sich die Teutschnationalen nennen, in 1 4 Tagen nochmals umfällt, Rede des Reichskanzlers in Essen. Essen, 28. Oktober. Reichskanzler vr. Luther traf um 6 Uhr 40 Min. im Flugzeug auf dem hiesigen Flug platz ein. In Erwartung seiner politischen Ausführungen füllte ein nach mehreren Tausenden zählendes Publikum den großen Saal des städtischen Saalbaues bis auf den letzten Platz. Um 9 Uhk 15 Min. erschien Reichskanzler vr. Luther, mit Händeklatschen lebhaft begrüßt. Er wies zu Eingang seiner Rede auf die Bedeutung der Essener Medizinischen Woche als kultur vermittelnde Einrichtung hin, sowie auf die be- sondere Bedeutung des Ruhrbezirks für die Arbeit der deutschen Wirtschaft. Als Thema für seine Betrachtungen hatte er die Frage gewählt: „WaS bedkutct Locarno?" Vor dem Kriege sei die Grundlage für die politische Gestaltung Europas das System der Gleichgewichtsgestaltung gewesen. In der Nach kriegszeit sei durch die Schaffung von zwei Kate gorien von Staaten, den entwaffneten und den bewaffneten, das Gleichgewicht gestört worden. Aufgabe der deutschen Nachkriegs politik sei, Deutschland als gleichberechtigten Faktor in das europäische Staatenshstem wieder einzusügcn. Die außenpolitischen Sorgen, die das deutsche Volk bewegen, knüpfen zunächst an die große Frage der allgemeinen Entwaffnung an, die im Vertrag von Versailles als Grundprinzip aufgestellt worden sei. Auch in Locarno habe die Frage der Entwaffnung eine wichtige Rolle ge spielt. Tas oberste Ziel von Locarno sei aber die Schaffung von Sicherungen für den Frieden. Zu diesem Zwecke diene in erster Linie der in Locarno weitgehend verwirklichte Ge danke des Schiedsverfahrens. Der Reichs kanzler gab anschließend eine eingehende Dar legung des Sicherheitspaktes unter besonderer Berücksichtigung einzelner, die Öffentlichkeit besonders interessierender Pro bleme. Das Schiedsgerichtsverfahren habe sich in den Erörterungen in London und in Lo carno als geeignetes und wirksames Mittel zur Sicherung des Friedens bewährt. Wir müssen uns vor Augen halten, fuhr der Kanzler fort, daß das Vertragswerk von Locarno eine ganz sorgfältig juristisch durchdachte Arbeit ist, an die wir mit demselben Ernst des Prüfens herantreten müssen, wie bei sonstigen Werken der Ge etzgebuug. Der Reichskanzler erörterte als dann die einzelnen Bestimmungen des Sicherheitspaktes. Was dtc Lstsrage anbelange, so sei hier im Hinblick auf die Führung der deutschen Ostgrenze eine andere Lage ge geben, als im Westen, aber auch hier stehe das Friedensziel, wie in der Präambel zu den Ostschiedsverträgen zum Ausdruck gebracht, im Vordergründe. Die in Locarno getroffenen Ab machungen zwischen Frankreich und Polen bzw. der Tschechoslowakei hielten sich ge nau an die im Völkerbundspakt getroffene Regelung, wozu noch vom deutschen Stand punkte aus hinzukomme, daß bei etwaigem Eintritt de- Garantiefalles die englisch-italienische Garantie zu Deutschlands Gunsten mittel bar wirksam werden könnte. Zur Frage de- Art. 16 der Völkerbundssatzung wies der Reichskanzler aus die Beziehungen Deutschlands zu Rußland hm, die, wie der jüngst beschlossene deutsch-russische Han delsvertrag beweise, durch da» Werk von Locarno keine Änderung erlitten hätten. Die Stellungnahme Deutschlands zu Artikel 16 sei bestimmt durch die besondere Lage Deutschlands in bezug auf den mili tärischen Rüstungszustand und seine geographischen Verhältnisse. Der Reichs kanzler berührte im Zusammenhang auch die übrigen mit Deutschlands Eintritt in den Völker bund zusammenhängenden Fragen. Anschließend ging er zur Betrachtung der Frage über, wie das in Locarno Erreichte sich in Zu kunft auswirken werde. Hier stellte er den Gesichtspunkt in den Vorder grund, daß ein Erfolg nicht deswegen abgelehnt werden könne, weil er nicht alle gehegten Wünsche erfülle. Der Weg zum Aufstieg sei mühselig und langsam. Ein Rückblick auf die vergangenen Jahre ergebe jedoch, daß ein positiver und ständiger Fortschritt fcstzustellen sei. In dieser Beziehung komme dem Artikel 6 des Sicherheitspaktes besondere Bedeutung zu. Hier sei in der Einführung des Schiedsvertrages über die Regelung des Londoner Abkommens hinaus ein bedeutender Fortschritt erzielt. Der Reichskanzler setzte sich alsdann mit den Einwendungen und Bemängelungen auseinander, die gegen das Werk von Locarno laut geworden seien, und wies anschließend auf die großen allgemeinen Gesichtspunkte hin, die bei Betrachtung des Werkes im Rahmen der Weltpolitik und der Weltherrschaft gelten müßten. Zur Frage der Rückwirkungen unterstrich der Kanzler dann mit beson derem Nachdruck die Notwendigkeit der Schaffung einer Grundlage, auf der dem schwergeprüften deutschen Volke Vertrauen in die Zusicherungen und Glauben an den Frieden der Zukunft erwachsen könne. Es bestehe kein Zweifel daran, daß, wenn die Rück- Wirkungen, insonderheit hinsichtlich der Rhein landfragen, in dem Sinne behandelt würden, der die logische Auswirkung der Verhandlungen in Locarno darstelle, dann eine große Mehrheit des deutschen Volkes dem Vertrage vonLorarno zustimmrn werde. Demgegenüber sei es eine Frage von Nach geordneter Bedeutung, in welcher Weise dieser sicher deutsche Volkswille seinen endgültigen Ausdruck finde, sei es im Parlament, wie es jetzt bestehe, sei es durch Befragen des deutschen Volkes selber. Allen deutschen Parteien rufe er, der Reichskanzler, zu, daß es sich jetzt nicht darum handle, Politik im Sinne des gewöhn lichen Wortes zu machen, sondern daß das deutsche Volk jetzt vor geschichtlichen Auf gaben stehe. Daß eine politische Entscheidung von solcher Tragweite hinterher auch tiefe Spuren in die gesamte politische Entwicklung eines Volkes trage, entspreche aller geschichtlichen Erfahrung. Er, der Reichskanzler, werde seine ganze Kraft daran setzen, daß die großen politischen Fragen wirklich reif würden zur Entscheidung durch das deutsche Volk. Da» sei seine Aufgabe im Dienste des ganzen deutschen Volkes, die höher stehe, als irgendwelche Parteigesichtspunfte. — In dieser Stadt, so schloß der Reichskanzler, in der ich die Ehre und da- Glück gehabt habe, als Ober bürgermeister zu walten, weiß jedermann, daß der gegenwärtige Reichskanzler Parteigesichtspunkte nickt kennt. Aber ich alaube an Deutschland. widmet die „Germania" in ihrer Mittwoch- Abendausgabe einen Artikel, in dem eS u. a. heißt: „Wenn Luther Reichskanzler bleiben will, so läge es in seinem Interesse, um der parlamentari schen Klarheit willen zu sagen, daß er den deutsch- nationalen Schritt für einen endgültigen halte und daß sie um seines persönlichen moralischen Ansehens im Auslande willen für ihn als Koalitions- Partei nicht mehr in Frage kommen können . . . Tas Zentrum wird nimmermehr geneigt sein können, den Schritt der Deutschnatio nalen als eine parlamentarische Neben sächlichkeit zu betrachten. Das politische Ge sicht Deutschlands muß ein ehrliches bleiben. Um ehrliche oder unehrliche Politik, klare» oder unklaren Parlamentarismus dreht sich jetzt endgültig die Entscheidung, auch bei einem eventuellen Wahlkampf. Klare Zustände wiederherzustellen, ist die Pflicht des Reichskanzlers. Nur so kann er sein eigene» politisches Ansehen sichern. * Britische Hoffnung aus Abrüstung. London, 28. Oktober. Der amtliche britische Funkdienst meldet: Der br,tische Kriegsminister Sir Laming Wor thington Evans erklärte in einer Rede, daß, wenn der Locarnovertrag ratifiziert sein wird, ein dauerndes Gefühl der Sicher heit in ganz Europa Platz greifen werde. Der gefürchteteRevanchekrieg wäre verbannt und Streitigkeiten, wie sie jetzt zwischen Griechen land und Bulgarien aufgetreten sind, könnten mit Leichtigkeit vom Völkerbünde, der durch den Ein tritt Deutschlands noch verstärkt werden würde, be seitigt werden. Der Vertrag würde auch er lauben, die allgemeinen Rüstungen zu vermindern. Frankreich brauche in Zukunft nicht mehr einen so großen Prozentsatz seiner Be völkerung unter den Waffen zu halten. * Polen und die Locarno-Verträge. Warschau, 28. Oktober. Heute begann im Auswärtigen Aus schuß des polnischen Landtages die Debatte über das Exposä des Außenministers, Graf Skrzynski, daß die Ergebnisse der Locarnoer Konferenz zum Gegenstand hatte. Als erster nahm der Sprecher der Nationaldemokraten, der ehemalige Außenminister Marjan Seyda das Wort, der an dem Locarnoer Vertragswerk heftige Kritik übte, ohne allerdings der künftigen Stellungnahme seiner Partei hierbei vorzugreifen. Seyda ist der Auffassung, daß die Fassung der Locarnoer Abkommen dehnbar sei und so verschiedene gefährliche Auslegungen ermögliche. Er fuhr dann fort: Minister Skrzynski nannte Laocrno eine Festung des Rechtes, der Politik und der Moral, die Hilfe gewähren soll den friedlichen Absichten der Mächte, die dort vertreten waren. Ihm zuzustimmen fällt schwer, es sei denn, daß die Deutschen durch irgend ein Wunder ihren Charak- tfer geändert hätt en, der sich seit tausend Jahren im Zerstören von allem, wa» polnisch ist, äußert. Locarno ist für Deutsch- land der Ausgangspunkt zur Eröffnung einer diplomatischen Offensive gegenPolen. Deutschland hat in den letzten Zeiten, haupt sächlich wegen der Fehlerhaftigkeit des Friedensver trages und der Ratlosigkeiten der Verbündeten ein ungeheures Stück Weges zurückgelegt und hat zu einem bedeutenden Teil die poli tische Stellung, die eS vor dem Kriege besaß, zurückerobert; Locarno hat eS neuer lich eine große Etappe vorwärts gebracht. Man muß diese Wahrheit dem polnischen Volke nicht verschweigen. So sichert denn Locarno die Befriedung Europa- nur für die aller nächste Zeit, für die ferne Zukunft vergrößert Locarno sogar die Ge fahren, wie alles, was die Kraft mehrt. So muß auch Polens Wachsamkeit durch Locarno gesteigert werden." Am Ende seiner Ausfüh rungen fordert Seyda für Polen einen stän digen Sitz im Völkerbundsrat.