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Gustav Mahler Symphonie Nr. 1 in D-dur eine Auswahl. Mahler attackiert und polarisiert. Die Nazis hatten es leicht, ihm Zersetzung des gesunden Volks empfindens vorzuwerfen. Die Distanz zu Mahler bezog auch Argumente aus dessen imponierender Selbstherrlichkeit, mit der er seine musikalischen Vorstellungen durch setzte. Seine Partituren sind angefüllt mit Detailvorschriften, etwa welche Schlegel der Pauker an dieser Stelle zu benutzen habe, ob der Dirigent Achtel oder Viertel schlagen solle, welches Instrument „zart hervortre ten“ möge etc. etc. Auch dieser Herr schaftsanspruch in Bezug auf die Wiedergabe war neu. Mahlers Totali täts-Mentalität wollte nicht die ge ringste Kleinigkeit der Kompetenz des Interpreten überlassen. Als Prakti ker des Dirigierens war er ja bis in die winzigsten Details beschlagen; ver folgt man ein Stück anhörend mit der Partitur, summiert sich diese nie nach lassende Akribie in der Tat zu einem logischen, überzeugenden Gesche hen. Doch wo beginnt Werktreue und wo endet Mißtrauen? In seinem fan tastischen Drang zur Verdeutlichung, der Bedeutungssteigerung, setzte er sich auch ungeniert über Notentexte Webers, Schuberts ja sogar Beetho vens hinweg, setzte hinzu, ließ weg mit dem Argument Tradition ist Schlamperei, selbst ein Beethoven ha be seine Einfälle nicht immer optimal in der Partitur realisieren können, man müsse ihn nachträglich zu seinem Vorteil korrigieren. Seine 1. Symphonie komponierte Mahler 1888. Das damals in Mahler gärende schöpferische Potential wur de durch eine Liebesbeziehung freige setzt, die ihn tief aufwühlte, deren Er füllung aber von äußeren Umständen verhindert wurde. In seiner Position als 1. Kapellmeister am Leipziger Opernhaus, wo er als Stellvertreter und Rivale Arthur Nikischs wirkte, er gänzte und bearbeitete Mahler einen Operntorso Carl Maria von Webers, „Die drei Pintos“. Dadurch kam er mit einem Enkel Webers, dem Haupt mann Carl von Weber, in Verbindung. Dessen Gattin war es, die im jungen Mahler eine heftige Leidenschaft auslöste, aus der er sich nur durch einen schöpferischen Exzeß retten konnte. Seinem Freunde Löhr in Wien schrieb er, die Symphonie sie sei wie ein Bergstrom aus ihm her ausgefahren. Doch acht Jahre später stellte Mahler Ursache und Wirkung klar: Ich möchte es betont wissen, daß die Symphonie über die Liebesaf färe hinaus ansetzt; diese liegt ihr zu grunde — respektive sie ging im Em pfindungsieben des Schaffenden vor aus. Aber das äußere Erlebnis wurde zum Anlaß und nicht zum Inhalt des Werkes... Im erwähnten Brief an Fritz Löhr steht noch: Wie mit einem Schlag sind alle Schleusen in mir geöffnet! Was aus diesen Schleusen strömte, war ein Werk, das schon den ganzen Mahler enthält mit all seinen Eigenarten, Wi dersprüchen und Spannungen, ohne jede symphonische Vorstufe oder Entwicklung. Nirgendwo ist Tasten oder Suchen zu spüren. Wie aus dem Haupte des Zeus entsprungen, steht Pallas Athene fertig gepanzert da. Auch ist schon die Brücke zu den