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Gustav Mahler Symphonie Nr. 1 in D-dur Mit Mahler betrat eine Gestalt die Bühne der Musikliteratur, wie es sie zuvor nicht gegeben hatte. Die Aus gangslage (man könnte auch sagen „Startposition“) war bestimmt von ei nem hochgradig übersteigerten, dabei total gespaltenen Lebensgefühl. Nachdem Mahler seine Konservato riums- und Universitätszeit in Wien abgeschlossen hatte, fand er im Som mer 1879 ein vorübergehendes Aus kommen als Klavierlehrer bei einer Wiener Familie, welche die Ferien auf ihrem Landgut in der ungarischen Puszta verbrachte. Von dort schrieb er seine „Lebensgeschichte“ an einen Studiengefährten: Lieber Steiner! Seien Sie mir nicht bös, daß ich Sie so lange ohne Antwort gelassen habe; aber alles ist so öde um mich herum, und hinter mir knacken die Zweige ei nes dürren, aus getrockneten Daseins zusammen... Wenn mich der scheuß liche Zwang unserer modernen Heu chelei und Lügenhaftigkeit bis zur Selbstentehrung getrieben hat, wenn der unzerreißbare Zusammenhang mit unseren Kunst- und Lebensverhält nissen imstande war, mir Ekel vor al lem, was mir heilig ist, Kunst, Liebe, Religion, ins Herz zu schleudern, wo ist dann ein anderer Ausweg als Selbstvernichtung. Gewaltsam zer reiße ich die Bande, die mich an den eklen schalen Sumpf des Daseins ket ten, und mit der Kraft der Verzweif lung klammere mich an den Schmerz, meinen einzigen Tröster. Dann weiter, nur durch einen Gedankenstrich ge trennt: Da lacht die Sonne mich an — und weg ist das Eis von meinem Her zen, ich sehe den blauen Himmel wie der und die schwankende Blume, und mein Hohnlachen löst sich in das Wei nen der Liebe auf. Ich ich muß sie lie ben, diese Welt mit ihrem Trug und Leichtsinn und mit dem ewigen Lachen. Damals war Mahler knapp neunzehn Jahre alt. Solche Verzweiflungseinbrüche und fast psychotischen Aufwallungen mögen auch anderen sensiblen und gefährdeten jungen Leuten widerfah ren. Das noch nie Dagewesene war, daß sich hier ein schöpferisch Begab ter von diesem schizoiden, heftigen Lebensgefühl legitimiert, ja sogar an getrieben fühlte, es unsublimiert in ein Kunstprodukt einzubringen, und mit aller Intensität und Kunstfertig keit eine Musik zu schreiben, die sich fratzenhaft und gemein macht, die sich ins Triviale ausbreitet. Das setz te eine grenzenlose Subjektivität vor aus, einen Anspruch, den vorher noch niemand in diesem Ausmaß gewagt hatte. In der Romantik wurde die Scheu schwächer, den persönlichen, auch privaten Bereich ins Kunstwerk zu transponieren. Schubert war es gelungen, in der „Winterreise“ seine Verzweiflung in diese „wahnsinnigen Lieder“ zu destillieren. Schumann ging schon weiter. Gleich mit seinem Opus 1 setzte er ein programmati sches Zeichen: der Name einer Ju gendfreundin, Lilly Abegg, wurde mit der Tonfolge A-B-E-G-G zum Mot to einer Variationenreihe gemacht und, neben vielen anderen Beispielen, finden wir in seinen Klavierwerken immer wieder die zwei selbst erfun denen Antagonisten seiner Persön lichkeit, den sanften, nachdenklichen