Volltext Seite (XML)
Zur Musik: „Die bei Mahler so faszinierenden Gegensätze wie Heiterkeit und Ernst, Poesie und Volkston, tragischer Ton und Ironie sind sämtlich im ‘Klagenden Lied’ schon angelegt. Denkbar groß ist der Ausdrucksraum beispielsweise zwischen dem leitmotivisch wiederkehrenden, klagenden ‘0 Leide’, dem ‘Weh’-Aufschrei, dem sanften Abgesang des ‘Blume’-Motivs einerseits und dem grell schmetternden Fernorchester mit Harfe, Bläsern, Pauken und Schlagwerk ..., das die lärmende Hochzeitsgesellschaft des Brudermörders charakterisiert, wohl auch die Rohheit seiner Seele deutet“ (Sabine Grosse, in: Programmheft der Dresdner Erstaufführung 1990). Epische Schilderungen und teilnehmende Kommentare wechseln einander ab. Arien, Ensembles und große Chorgesänge fehlen. Das Orchester deutet das Geschehen zwar auf eigenständige Weise, verbindet aber ein dichtes Netzt von Leitmotiven mit den Gesangspartien. „Symphonie heißt mir eben: mit allen Mitteln der vorhandenen Technik eine Welt aufbauen." - hatte Gustav Mahler selbst geäußert. darunter auch etwas Kammermusik - nur zwei Gattungen: die Sinfonie und das Lied. Beide hat er oftmals miteinander verbunden, einerseits den Begriff des Sinfonischen in ex tensiver Weise über die traditionel len Gattungsgrenzen hinausgeführt, andererseits dem Lied sinfonische Gestaltungselemente beigefügt und damit völlig neue Formen geschaf fen. Wort und Musik bedingen sich in seinem musikalischen Denken, und wo nicht Worte selbst vertont sind, ist ein verbal-programmati scher Hintergrund zu suchen und wohl auch zu finden. Mahler baute in jedem seiner Werke eine Welt auf. Doch er beschrieb keine reale Welt, wenn auch in musikalischer Einkleidung. Er war sich durchaus bewußt, daß Musik, wenn sie sich über eine tönende Struktur hinaus auf Außermusikalisches (Biographi sches, Philosophisches, Politisches) bezieht, dies nur durch die in ihr angelegten Assoziationsmöglich keiten vermittelt. So bleibt jedes Programm gegenüber dem musika lischen Ereignis letztlich irrelevant. Mahlers Musik will weit mehr sein, als bloßes Ausfüllen vorgegebener Muster, als eine „tönend bewegte Form", wie es Eduard Hanslick in seinem vielzitierten und viel mißverstandenen Buch „Vom Musi kalisch-Schönen" (1854) vom „In halt der Musik" forderte. Sie will Botschaften verkünden, und des halb fließen wohl doch beide Aspekte zusammen. Zweifellos war Mahler durchaus der Ansicht, Mu sik sei ein sinntragendes Kommuni kationsmedium, das zwar nicht an Stelle der Sprache treten könne, doch mit ihren ureigensten Mitteln sehr wohl Dinge unseres Lebens auszudrücken vermag. Spielt auch das eigene Erleben in Konzeption und Ausführung eines Werkes eine gewisse Rolle, sollten wir doch nicht versucht sein, diese musikali schen Botschaften auf rein Biogra phisches zu verkürzen; es ist mehr, was der Komponist uns sagen will. Er hatte bis zu seiner 4. Sinfonie ei nen Kreis durchschritten, der - durchaus programmatisch geprägt - sich mit dem Begriff „Wunder- horn-Romantik" umschreiben läßt und durch die menschliche Ge-