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gen sich. Das Werk - eher ein Ora torium als eine Sinfonie - ist tief ernst gemeint (aber das war die „West Side Story" auch). Musika lisch sind Bernstein-Extreme zu erle ben: heftig-fetzende Forteeinsätze, besinnliche Episoden, Hymnisches und unbändiger Tanz, rhythmische Finessen, schlichte Fortschreitun gen, Jazzelemente, Mahlersche Harmonik und dissonante Aus brüche ebenso, wie Chromatik und Diatonik, Pantonalität und Tona lität. „Kaddisch" (Heiligung) ist ein altes synanogales Gebet (aus dem 1./2. Jh.), eine Lobpreisung Got tes, verbunden mit der Bitte um Frieden und Erlösung. Der Text ist aramäisch abgefaßt, einer mit dem Hebräischen sehr verwandten Sprache. Dem Kaddisch-Gebet wurden späterhin hebräische Verse hinzugefügt, die letzten, in denen Gott um Frieden angefleht wird. Obwohl die Verherrlichung Gottes und seines Reiches auf Erden im Mittelpunkt des Gebetes stehen, hatte es sich im jüdischen Ritus ein gebürgert, „Kaddisch" auch am Grabe Verstorbener zu beten. Es erhielt sogar die Bedeutung eines Trauergebetes. Zu Bernsteins Denk weise gehörte es, sich in seinen Werken immer wieder mit der all gemeinen (und eigenen) Krise des Glaubens auseinanderzusetzen. Er wollte als erkennender Mensch mit seinem Gotte ringen (Moses hatte mit Gott, Jakob mit dem Engel Got tes gekämpft). In der Kaddisch-Sin- fonie hat dies wohl die kraftvollste textliche und musikalische Gestal tung gefunden und gipfelt in einer hymnischen Erneuerung des Glau bens. Der Gebetstext, den Vokal stimmen Vorbehalten, blieb unver ändert und wird originalsprachlich (aramäisch/hebräisch) intoniert. Bernstein hatte als zweite Ebene die des Gottesstreiters eingeführt, einen eigenen (englischen) Text verfaßt und diesen einem Sprecher zugeordnet (in der Erstfassung ei ner Sprecherin). Trauer bestimmt den Menschen. Er „will ... diesen letzten 'Kaddisch' singen für Dich, für mich und für alle, die ich liebe". Wenn auch das Ende gekommen sein mag, da der Mensch seinen Schöpfer enttäuscht und Gott sich von seinen Geschöpfen fortge wandt habe, so ist doch der Glau be erschüttert und Gott und Mensch müssen sich versöhnen, Friede muß über Chaos, Leben über Tod siegen. „Der Sprecher symbolisiert den Menschen oder denjenigen Teil des Menschen, den Gott geschaffen hat, um seine Un sterblichkeit anzudeuten ... den Teil, der sich dem Tod verweigert, auf Gott beharrt", erläuterte Leo nard Bernstein. Die großbesetzte Komposition ist in drei mehrgliedrige Sätze geteilt, deren Zäsuren durch drei „Kad- disch"-Gebete gesetzt sind: Invoca- tion (Anrufung) enthält die Einlei tung zum Gebet, dem eventuell letzten Kaddisch, der dem Men schen verblieben sein mag. Das gesungene Gebet selbst folgt. Din- Torah (Prüfung nach Gottes Ge setz) läßt die Zweifel des aufrühre- Aufführungsdauer: ca. 40 Minuten Uraufführung: 10.12.1963 unter Leitung des Komponisten in Tel Aviv 1977 Revision von Text (leichte Kürzung) und Musik; Aufführung der „endgültigen Fassung" 25.8.1977 in Mainz (Leitung: Bernstein)