Beethoven & Wagner TRADITION ? REVOLUTION ? D er Minnesang, jene mittelalterliche Kunst, die adelige, meist von Hof zu Hof ziehende Dichtermusiker zelebrier ten, erlebte im 19. Jahrhundert eine Renaissance: Sprachgelehrte gaben die meist nur handschriftlich überlieferten Texte der bedeutendsten Minnesänger heraus. Außerdem veröffentlichten sie Wörterbücher, in denen die neuhoch deutschen Entsprechungen der mittel hochdeutschen Vokabeln nachzuschla gen waren. Und bald beschäftigte man sich auch mit den Meistersingern, den bürgerlichen Nachfahren der höfischen Troubadoure - zumal sie die Werke der Minnesänger sammelten und deren Melodien tradierten. Aber das Interesse an der (spät-)mittelalterlichen Dichtung blieb nicht auf den Kreis von Sprach wissenschaftlern beschränkt. Der Min ne- und Meistersang rückte auch in das Blickfeld der Literaten. So schrieb der Wiener Dramatiker Johann Ludwig Deinhardstein 1827 ein Schauspiel, das sich mit dem Leben und Werk von Hans Eine komplexe Stimmungslage erzeugte im 19. Jahrhundert die Sehnsucht nach der „mittelalter lichen" Welt - das für viele er schreckend hohe Tempo der Indus trialisierung, aber auch das wach sende politische Selbstbewusstsein des Bürgertums sowie erstarkende nationale Kräfte verklärten die Zeit der Burgen und Reichsstädte, der Barden und Zünfte. (Oben: „Die Meistersinger von Nürnberg", Eduard Ille, 1866) Sachs, dem führenden Meistersinger aus Nürnberg, auseinandersetzte. Dein- hardsteins Hans Sachs bildete wiederum die Grundlage für die gleichnamige Oper Albert Lortzings, die 1840 in Leipzig zur Uraufführung gelangte. Richard Wagner kannte beide - das Drama und die Oper Hans Sachs. Doch zog er, um die Welt der Meistersinger zu erkunden, auch noch wissenschaftliche Arbeiten zu Rate - darunter Gervinus’ Ceschichte der deutschen Nationalliteratur. Nach jahrelangen Vorstudien konnte er sein