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Die 4. Sinfonie Tschaikowskis enthält stark autobio grafischen Charakter, wie er selber gesteht. In einem 1878 an seine Gönnerin Nadeshda von Meck geschriebenen Brief analysiert er das Programm dieser Sinfonie: »Der Kopfsatz enthält den Kern der ganzen Sinfonie, ohne Zweifel ihren Hauptgedanken. Das ist das Fatum - symbolisiert durch die Fanfare der Hörner und Fagotte zu Beginn - die verhängnis volle Macht, die unser Streben nach Glück verhindert und eifersüchtig darüber wacht, dass Glück und Frieden nie vollkommen und wolkenlos werden, eine Macht, die wie ein Damoklesschwert über unserem Haupte schwebt und unse re Seele unentwegt vergiftet. Sie ist unbesiegbar, nie wird man sie überwältigen. Es bleibt nichts, als sich damit abzu finden und erfolglos zu klagen.« Selbst ein aufkeimendes Walzerthema, das dem Verlangen nach Glück Ausdruck gibt, Peter Tschaikowski A ls Peter Tschaikowski 1877/78 an seiner 4. Sinfonie schrieb, hatte er sich bereits über Russland hinaus mit verschiedenen Opern, dem ersten Klavierkon zert, dem Ballett »Schwanensee« und zahlreichen kammer musikalischen Werken einen Namen gemacht. Trotzdem plagten den sensiblen Künstler häufig Selbstzweifel und Gefühle von Einsamkeit und Wertlosigkeit, die stark mit seiner homosexuellen Veranlagung zusammenhingen, die in damaliger Zeit nicht öffentlich gelebt werden konnte. 1877, während seiner Arbeit an der 4. Sinfonie, spitzten sich seine Lebensumstände bedrohlich zu. Die mit einer ihn verehrenden Musikstudentin eingegangene Scheinehe über forderte ihn masslos. Nach einem Selbstmordversuch flüch tete er für mehrere Monate in die Schweiz und nach Italien. Dort versenkte er sich ganz in seine Kompositionen, um sich »arbeitend zu erholen«, wie er selbst schrieb. Zu der Zeit arbeitete Tschaikowski nicht nur an seiner 4. Sinfonie, sondern auch an der Oper »Eugen Onegin«. wird vom schicksalhaften Kernmotiv abgelöst. Auch ein alles Traurige vergessendes Klarinettensolo erscheint wie ein Traum und wird von der rauen Wirklichkeit eingeholt. Im zweiten Satz malt das Oboensolo jenes melancholische Gefühl, das uns nach getaner Arbeit am Abend erfasst. Ein Schwarm Erinnerungen taucht auf, das Sehnen nach Ver gangenem. Den dritten Satz beschreibt Tschaikowski: »Es sind kapriziöse Arabesken, unfassliche Gestalten, die, von der Phantasie geschaffen, vorbeischweben, wenn man Wein getrunken und einen kleinen Rausch hat. Man ... lässt sich von der Phantasie treiben, die seltsame Bilder entwirft... Und da fällt einem unter anderem der Anblick betrunkener Bäuerlein und ein Gassenliedchen ein.« Das Allegro con fuo- co des vierten Satzes zeigt den Frohsinn eines Volksfestes. Doch kaum ist die eigene Traurigkeit vergessen, kündigt sich das dunkle Thema des ersten Satzes erneut an, aber das heitere Volk kümmert sich nicht darum. Es bleibt der Trost. Tschaikowski: »Freue dich an der Freude anderer - und das Leben ist zu ertragen!« Tschaikowski dirigierte 1888/89 auf zwei grossen Europatourneen eigene Werke, und am 20. Februar 1889 gastierte er in Dresden. Hier leitete er seine 4. Sinfonie als deutsche Erstaufführung im 5. Philharmonischen Konzert der Gewerbehauskapelle in Dresden - jenes Orchester, aus dem die Dresdner Philharmonie hervorgegangen ist. Das Werk hat nach Tschaikowskis eigenen Worten »Sensation erregt«.