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Giuseppe Verdi G egen Ende seines Lebens, als er mit »Falstaff« sein Opernschaffen beendete und - nach Aussage sei ner Lebensgefährtin Giuseppina Strepponi - für neue Opern »zu alt, zu müde« war, komponierte Verdi die von ihm selbst als »Pezzi Sacri« (geistliche Stücke) bezeichneten Werke. Sie entstanden voneinander unabhängig zwischen 1889 und 1898. Die Musik wechselt von schwebender Inner lichkeit zu jubelnder Hymnik, von moderner Harmonik zu alter Doppelchorpraxis und deutet die Textaussage musika lisch-psychologisch aus. Wie in den Opern stellte Verdi auch bei seinen geistlichen Kompositionen die menschliche Stim me in den Vordergrund, nicht das sinfonische Orchester. »Te Deum« und »Stabat Mater« sind seine letzten vollendeten Werke. An eine Aufführung der »Quattro pezzi sacri« dachte er ursprünglich nicht (»... es ist mir zuwider, mich dem Publi kum nochmals preiszugeben«), gab aber schliesslich seine Einwilligung zur Uraufführung des »Stabat«, der »Laudi« und des »Te Deum« am 7. April 1898 in der Grand Opera Paris; das »Ave Maria« war bereits im November 1889 in Wien ur aufgeführt worden. Auf sein »Te Deum« war Verdi so stolz, dass er wünschte, mit der Partitur unter dem Kopf zu Grabe getragen zu werden. Verdi war zeitlebens kein religiöser Mensch im kirchlichen Sinn, denn der zeitbedingte Gegensatz zwischen Risorgimen to (Bewegung zur Wiedererstehung eines gesamtitalieni schen Nationalstaates) und der römisch-katholischen Kirche hinderten ihn stark daran. Doch stand dies einem christlich orientierten Grundzug in seinem Wesen keineswegs entge gen, und er wusste sich stets den humanistischen Idealen des Christentums verbunden. Ave Maria (UA November 1889 in Wien) 1888 veröffentlichte die Mailänder »Gazzetta Musicale« eine Kompositionsaufgabe über eine zu harmonisierende »scala enigmatica«, eine Rätseltonleiter mit den Tönen C - Des - E - Fis - Gis - Ais - H - C. Verdi fand dies eine reizvolle Geistes übung und legte sie seinem »Ave Maria« zugrunde. Es ist ein ausgesprochen kontrapunktisches A-cappella-Kunststück, in dem Bass, Alt, Tenor und Sopran nacheinander die Tonleiter unter enharmonischen Verwechslungen und ungewöhnlichen Fortschreitungen harmonisieren. Aus diesem lyrisch-ätheri schen Schwebezustand moduliert die Musik nach ehrfürch tiger Pause während des »Amens« zur Grundtonart zurück. Stabat Mater (UA April 1898 in Paris und Turin) Mit stärkster Intensität des Ausdrucks und einer Vielfalt der Klangfarben komponiert Verdi in diesem Werk ein Passions fresko. Die Sequenz zum »Fest der Sieben Schmerzen Ma riä« (Freitag nach dem ersten Passionssonntag) hat Verdi quasi als Passions-Drama komponiert: Ein rhythmisches Motiv steht für die Geisselung, eine gespannte, zwölftakti ge Folge weniger Klänge symbolisiert die Vision des Todes. Dynamische Kontraste bilden Passagen wie die A-cappella- Stelle im »Eja Mater« und Gipfel des »Paradisi Gloria«. Wie auch in der Musiksprache seiner Oper »Otello« verbindet Verdi modernes Klanggefühl mit herben, altertümlichen Wendungen in Melodik, Harmonik und Instrumentation. Laudi alla Vergine Maria (UA siehe stabat Mater) Der Text stammt aus dem 33. Gesang des Danteschen »Para- diso« und wird, im Gegensatz zu den anderen, lateinisch gesungenen Stücken, in italienischer Sprache dargeboten. Die Klangschönheit eines a cappella singenden Frauencho res, die klaren harmonischen Verhältnisse sind einerseits ein Bild für die Reinheit der jungfräulichen Unschuld und spie geln andererseits Verdis tiefe Bewunderung für Palestrina wider. Diese Neubelebung palestrinensischer Tonsprache, intensiviert durch »das verfeinerte, nuancenreiche Klangge fühl der Romantik« (Werner Oehlmann/Alexander Wagner) gibt diesem Stück seinen ganz besonderen innigen und ly rischen Ausdruck - gleichsam ein Ausblick auf das Paradies. Te Deum (UA siehe Stabat Mater) Der doppelte vierstimmige Chor mit Orchester nach dem aus frühchristlicher Kirche stammenden »Ambrosianischen Lobgesang« ist in der Besetzung das aufwändigste, präch tigste und grosszügigste der vier Stücke. Dem Wortlaut des »Te Deum« angemessen, trägt der Männerchor zu Beginn die gregorianische Intonation und die Anfangsverse drama tisch im Piano vor, bevor Chor und Orchester mit »Heilig« einsetzen. Grosse musikalische Kontraste illustrieren den Wechsel der lobpreisenden und bekennenden Anrufe. Die Bitte um Erbarmen, schwankend zwischen Moll und Dur, erklingt a cappella. Zusammenzubrechen scheint der Anruf »In te Domine speravi«, bevor ihn ein Sopransolo heraus schreit und der Chor fortissimo einfällt. Das Werk endet in geheimnisvollen Pianissimo-Akkorden.