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Konzerte in der Frauenkirche Anna Seghers' 1942 erschienener Roman „Das siebte Kreuz" erzählt die Ceschichte einer Flucht. Sieben Häft linge flüchten aus einem Konzentrationslager und werden zum Tod am Kreuz verurteilt. Sechs von ihnen scheitern, einer aber kann fliehen und das für ihn bestimmte siebte Kreuz bleibt leer. Er rettet sich auf ein Schiff, das ihn außer Landes bringt. Die sieben Texte zu Hans Werner Henzes siebensätziger Symphonie wollen Würdigung sein und Erinnerung. Sie beziehen sich allesamt auf Anna Seghers' Roman und auf das, wovon dieser Roman handelt, ohne ihn doch wort wörtlich zu zitieren. Es beginnt mit der Flucht und mit der Angst des Flücht lings. Wir hören seinen rasenden Herzschlag, der ihn fast umbringt. Wir hören von seinem Wunsch, sich zu verwan deln in einen Baum, in Laub, in eine Handvoll Erde, um nur nicht den Schergen, die vor nicht allzu langer Zeit noch seine Nachbarn waren, in die Hände zu fallen. Für die Träume des Erschöpften tut sich bereits das Schat tenreich auf, in dem wohl kein Leben, aber auch kein Schmerz mehr ist und kein lebendiger Leib, der sich vor Schmerzen fürchten muss. Denn die Verfolger sind gründ liche Leute, sie morden nicht nur, sie foltern auch und schreiben darüber ein mit einem Aktenzeichen versehenes Protokoll. Sieben Platanen werden gefällt und sieben aus Platanen errichtete Kreuze warten auf die Flüchtlinge. Eines war für den Artisten Belloni vorgesehen, der eigentlich Anton Meier heißt. Belloni flüchtet sich auf das Dach eines Hotels. Ihn trifft ein Schuss, und er, der Träumer und Artist, rollt das Dach hinab, öffnet seine Arme und fliegt. Im Dom sucht der Flüchtling Zuflucht. Er lässt sich ein schließen und verschafft sich so „eine Gnadenfrist, die er fast mit Rettung verwechselt" (Anna Seghers). Doch es ist kalt im Dom, das Gotteshaus wärmt den Flüchtigen nicht, und zwischen Säulen, Grabplatten und Steinfiguren fällt er ins Fieber und ruft nach dem Gekreuzigten, der ihm nicht antworten kann. Stattdessen hört er das Flüs tern der Toten, deren einziges Thema der Staub ist und die Verwesung. Der Flüchtling entkommt den Toten - ebenso, wie er seinen Verfolgern entkommt. Rettung findet er auf einem holländischen Schiff, das ihn den Rhein hinab und in die Freiheit bringt. Der große Strom, der für so viele vater ländische Gesänge gut war, darf nur einen einzigen Menschen retten - vor seinem Vaterland. Doch damit ist auch ein Stück dessen gerettet, was wir unter „Heimat“ verstehen. (Hans-Ulrich Treichel, Notiz zum Text der Symphonie)