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Bachs Suiten fü ©sc-hlossenheit und Vielfalt Eine ganze Reihe von Rätseln verbindet sich mit Johann Sebastian Bachs Suiten für Violoncello solo. So ist zum Beispiel nicht genau bekannt, wann die Stü cke entstanden. Wahrscheinlich ist immerhin, dass Bach sie um 1720 in Kö then schrieb. Aus diesem Jahr stammen nämlich auch die sechs Sonaten und Partiten für Violine solo, auf deren Titelblatt »libro primo« (erstes Buch) ver merkt ist - die Cello-Suiten könnte man demnach als das zweite Buch einer geplanten Reihe verstehen. Dem widersprechen allerdings manche Musikfor scher: Sie vermuten aus stilistischen Gründen, dass die Cello-Suiten vor den Violinwerken entstanden. Und da Bach wohl kaum für eine imaginäre Nach welt komponierte, stellt sich eine weitere Frage: Für wen waren diese außer ordentlich schwierigen Stücke wohl bestimmt? Die meisten Musikwissenschaft ler tippen hier auf den Gambisten Christian Ferdinand Abel, der auch das Cello beherrschte. Bach war mit ihm offenbar freundschaftlich verbunden, denn er wurde 1720 Taufpate von Abels drittem Kind Sophie Charlotte. Doch in welchem Rahmen mag Abel die Suiten gespielt haben? Eigneten sie sich als Vortragsstücke für die fürstliche Kammer? Oder waren sie für die sen Zweck klanglich zu spröde und intellektuell zu anspruchsvoll? Dann wä ren sie vielleicht als Studienwerke anzusehen - eine hohe Schule des Cello spiels, die systematische Erschließung des Instruments. Dafür spricht, dass sich der Schwierigkeitsgrad der Suiten von Nr. 1 bis Nr. 4 kontinuierlich erhöht, wäh rend die beiden letzten Sonderfälle behandeln: Skordatur, also »Verstimmung« einer Saite wird in der fünften Suite verlangt; das Spiel auf einem fünfsaiti gen Instrument in der sechsten. Dieses Instrument (mit einer zusätzlichen ho hen E-Saite über der A-Saite) war möglicherweise die in Armhaltung gespiel te »Viola pomposa«, vielleicht aber auch ein fünfsaitiges Cello. Bevor nämlich das viersaitige Instrument zur Norm wurde, waren fünf-, sechs- und sogar sie bensaitige Celli durchaus gebräuchlich. Heute können sehr versierte Musiker die sechste Suite auch auf vier Saiten bewältigen, weil die im 19. Jahrhundert perfektionierte Technik des Daumenaufsatzes das sichere Spiel in den höhe ren Griffbrett-Regionen ermöglicht. Eine pädagogische Bestimmung würde wohl auch die merkwürdige Beset zung der Suiten erklären. Kompositionen für unbegleitete Melodieinstrumen te waren zu Bachs Zeit selten - es gab einiges für Gambe, schon viel weniger für Violine, doch ein anspruchsvolles Stück für Cello solo hat vor Bach in Deutschland wohl niemand geschrieben. Das Ungewöhnliche eines solchen Un ternehmens drückt schon der Titel der Suiten aus, der ausdrücklich »Violon cello solo senza basso« (ohne Bass) verlangt. Dabei meint »basso« weniger ein bestimmtes Instrument als ein Prinzip. Die Epoche des Barocks wird in der Mu sik ja auch als das »Generalbass-Zeitalter« bezeichnet, weil sich üblicherweise jeder Melodieton auf ein harmonisches Fundament aus Basston und Akkord bezog. Allerdings verzichtet Bach in seinen Solosuiten nicht wirklich auf den Generalbass: Zum einen nutzt er die Möglichkeit von Doppelgriffen, wenn auch nicht im gleichen Maße wie in den Violinsonaten und -partiten. Zum anderen ar beitet er den Generalbass in die reale Einstimmigkeit ein. »Linearen Kontrapunkt« nennen die Musikforscher diese Technik, die höchste kompositorische Kunstfer tigkeit erfordert. Der Begriff »linearer Kontrapunkt« erscheint fast wie ein Wider spruch in sich, und tatsächlich beruht die Wirkung auf einer »akustischen Täu schung«: Durch schnellen Wechsel der Tonlage entsteht nämlich beim Hörer der Eindruck mehrerer gleichzeitig erklingender Linien in den einzelnen Registern des Instruments; das Ohr verbindet klanglich benachbarte Töne zur »Melodie«, auch wenn sie zeitlich nicht unmittelbar aufeinanderfolgen, sondern durch tiefere Töne getrennt sind. Diese tieferen Töne wiederum empfindet man als harmonische Grun dierung, auch wenn sie nicht gleichzeitig mit den hohen erklingen. Allen sechs Suiten liegt die gleiche Satzanordnung zugrunde: Auf ein quasi improvisatorisches Präludium folgen die vier traditionellen Kernsätze der Suite, al lesamt zweiteilig mit Wiederholungen (nach dem Muster AABB). Den Anfang macht die Allemande, ein mäßig schneller Tanz im Vierertakt, melodisch oft stark ausgeziert. Dann folgt die lebhafte Courante, mit viel Laufwerk (wie schon der Name sagt) und im Dreiermetrum. An dritter Stelle steht die langsame, feierliche Sarabande, im Dreiertakt mit Schwerpunkt auf der zweiten Zählzeit. Und den Ab schluss bildet die Gigue, ein schneller, springender Tanz im 3/8-, 6/8- oder 12/8- Takt. Bach befolgt dieses »Pflichtprogramm« der Suite genau und erlaubt sich nur bei den »Galanteriestücken«, die er zwischen Sarabande und Gigue einschiebt, ge wisse Freiheiten. Für die erste und zweite Suite wählt er Menuette, für die dritte und vierte Bourrees und für die fünfte und sechste Gavotten. In jedem Fall han delt es sich um Modetänze, die - anders als die älteren Stammsätze der Suite - nur wenig stilisiert sind, also noch deutlichen Tanzcharakter zeigen. Die Galan teriestücke treten paarweise auf, wobei jeweils das zweite Stück als Trioteil fun giert; danach folgt noch einmal das erste (ohne Wiederholungen der Satzteile). Diese Merkmale haben alle Cello-Suiten gemeinsam - erstaunlich, dass Bach dennoch sechs Werke von unverwechselbarer Eigenart schreiben konnte. Ganz un terschiedlich sind zum Beispiel die Präludien gestaltet: Das der ersten Suite bringt vor allem Akkordbrechungen in gleichmäßigen Sechzehnteln. Dagegen arbeitet das Präludium der zweiten Suite mit unterschiedlichen Notenwerten: Gleich zu Be ginn hört man einen rhythmisch profilierten Themenkopf. Er kehrt auf verschie denen Tonstufen wieder und gliedert so das Stück. Das Präludium der fünften Suite ist aufgebaut wie eine französische Ouvertüre: Auf den pathetischen Ein- leitungsteil folgt ein »fugierter« Mittelabschnitt. Ein besonders ausgedehntes Vor spiel besitzt die sechste Suite. Es steht im 12/8-Takt und beginnt mit zwei »Spe zialeffekten«: Zum einen Echowirkungen - die gleiche Figur erklingt erst laut, dann leise. Zum anderen die »Bariolage«-Technik - der gleiche Ton wird in schnel lem Wechsel auf unterschiedlichen Saiten gespielt. So phantasievoll wie er die Präludien gestaltet, variiert Bach auch die Grund charaktere der Tänze. Die der Allemanden zum Beispiel: Graziös und rhythmus- betont gibt sich das C-Dur-Stück, gleichmäßiger fließend das in Es-Dur. Ganz un gewöhnlich erscheint die D-Dur-Allemande: ein besinnlicher, introvertierter Satz mit feinen rhythmischen Verästelungen bis zu 1/64- und 1/128-Notenwerten. Ähnlich mannigfaltig auch die übrigen Sätze: Das Spektrum reicht von höchst ab strakten Konstruktionen bis zu ländlichen Dudelsack-Imitationen (zweite D-Dur- Gavotte) und Jagdsignalen (D-Dur-Gigue), von dissonanten Reibungen (C-Dur- Sarabande) bis zu wohlklingenden Sextparallelen (D-Dur-Sarabande), von düsterem Ernst (d-Moll-Sarabande) bis zu überschäumender Freude (C-Dur-Gigue). Mit sei nen Solo-Suiten für Cello hat Bach einen Zyklus geschaffen, der einzigartige Ge schlossenheit mit farbigster Vielfalt verbindet. Im eng gesteckten Rahmen der alt hergebrachten Suitenform erschließt sich ein ganzes Universum expressiver, spiel- und satztechnischer Möglichkeiten. George Crumb wurde 1929 in Charleston, West Virginia, geboren. Eine solche Angabe des Geburtsortes dient in anderen Komponistenbiographien meist nur der formalen Vollständigkeit. Bei Crumb dagegen ist sie vielleicht von tieferer Bedeu tung - zumindest nach Einschätzung des Komponisten selbst: »Ich bin überzeugt«, schreibt er, »dass jeder Komponist in seinen entscheidenden Kinderjahren eine spe zifische, von seiner Umgebung geprägte akustische Wahrnehmung entwickelt, die ihm dann sein ganzes Leben lang erhalten bleibt. Die Tatsache, dass ich in einem Flusstal in den Appalachen aufwuchs, hatte zur Folge, dass sich mein Ohr auf eine ganz spezielle Echoakustik einstellte; diese Akustik hat sich meinem Gehör gleich sam eingeschrieben und bildet die akustische Grundlage aller meiner Musik. Ich nehme an, dass ein Meeresstrand oder endlose Ebenen eine gänzlich anders gear tete akustische Wahrnehmung bewirken.« Wie lässt sich nun Crumbs Musik beschreiben? Er selbst versuchte es so: »Es ist eigenartig, dass man mit sehr präziser Notation die improvisatorische, frische, unverbrauchte Qualität in der Musik erzielen kann. Meine Musik hatte immer ein wenig von diesem scheinbar Improvisierten.« Hinzu kommt eine enorme Sensibi lität für Klangfarben. Beides prägt die Kompositionen, die den Amerikaner An fang der 1970er Jahre bekannt machten - etwa das Streichquartett »Black An- Cellomusik au Armenien Klang und ’ ■ ' n.nf't und Dresden