Bass mit Charakter Brahms entfaltet den „Choräle Sti. An toni!" zunächst in Originalgestalt, diffe renziert ihn aber dreifach in der Laut stärke. Bereits in der ersten Variation setzen die Streicher dem Thema Gegen themen in Akkordbrechungen und dop pelter Bewegung entgegen, das Ganze zu einem dichten Gewebe verflechtend. In der zweiten Variation wird das Tempo weiter gesteigert. Die Ausgangstonart B-Dur wechselt nach b-Moll, nochmals in der vierten und achten Variation. Variation III umrankt das Thema und hält die Orchesterstruktur trotzdem durchsichtig. Nach den drei ersten sich in der Bewegung stetig steigernden Variationen nimmt die vierte das Tempo wieder zurück und variiert den Rhyth mus: Aus dem 2/4- wird ein 3/8-Takt. Darauf folgen zwei lebhafte Vivace- Varianten. Variation VII zeichnet sich vor allem durch ihren wiegenden „Siciliano“- Rhythmus aus. Die letzte Variation schließlich gestaltete Brahms als derbes Scherzo in Moll, durchsetzt mit charak teristischen Synkopen. Das Finale nimmt fast die Hälfte des kleinen Zyklus’ ein. Es ist ein kunstvolles kontrapunktisches Gebäude über einem insgesamt 17 Mal wiederholten, fünftak tigen, ostinaten (gleichbleibenden) Bassthema, das sich an das Hauptthema anlehnt. Brahms war durch das genaue Studium von Bachs „Goldberg-Varia tionen“ mit der vorklassischen Satz kunst vertraut. Dort bildete oft die durchgehende Bassstimme das Grund gerüst der Komposition, eine Technik, die Brahms bereits in seinen Händel- Variationen anwendete. Das Finale der „Haydn-Variationen“ fand später ein gewichtiges Pendant in Brahms’ Sin fonie Nr. 4, deren letzter Satz übereinem festen Gerüst, einem Chaconne-Thema, aufgebaut ist. Auch Beethoven verwen dete einen feststehenden Bass: in seiner „Sinfonia eroica“. Permanente Variation und selbstkritisches Überarbeiten sind typische Merkmale in der Kompositionskunst von Johannes Brahms. Arnold Schönberg und andere Avantgardi sten sahen darin das Fortschrittliche in der Arbeit des Traditionalisten Brahms, einen zeitgemäßen Umgang mit der Musik. Einige Zeitgenossen aus dem Umkreis von Wagner und Liszt warfen ihm Jedoch einen Mangel an Originalität vor. In der harschen Kritik von Hugo Wolf kommt dies deutlich zum Ausdruck:„[Die Haydn-Variationen] legen ein beredtes Zeugnis ab für die eigentliche Begabung Brahms’: die der kunstvollen Mache. Aufs Variieren von gegebenen Themen versteht sich Herr Brahms wie kein anderer. Ist doch sein gan zes Schaffen nur eine große Variation über die Werke Beethovens, Mendelssohns und Schumanns... Die Kunst, ohne Einfälle zu komponieren, hat entschieden in Brahms ihren würdigsten Vertreter gefunden." (Oben: Brahms, i8g6)