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fertigten Abschrift lange im Besitz von Johannes Brahms (mit zahlreichen Eintragungen von dessen Hand). Eine erste Aufführung der Messe und eine beabsichtigte Widmung deutete Schubert in seinem Brief an Josef Spaun vom 7. Dezember 1822 an: »Meine Messe ist geendigt und wird nächstens pro- ducirt werden; ich habe noch die alte Idee, sie dem Kaiser* zu weihen, da ich sie für gelungen halte«. (* Schubert meint hier nicht Kaiser vom Freiburger Barockorchester, sondern den damaligen, in Wien residierenden Kaiser.) Selbst die Entscheidung für As-Dur als Haupttonart muss in diesem Zusam menhang als vielsagend gelten. As-Dur wird nur selten für die Vertonung von Messen verwendet, doch bringt die Tonart in den Worten des deutschen Dichters und Musikschriftstellers Christian Friedrich Daniel Schubart (1739- 1791) die Gedanken von »Tod, Grab, Verwesung, Gericht, Ewigkeit« zum Ausdruck, eine Botschaft, die im Rahmen der sechs Sätze des Werks allmäh lich entschlüsselt wird. Mit Ausnahme des Sanctus stehen sie jeweils in einer Terz-verwandten Beziehung zueinander: As - E (= Fes) - C - F - As - As. Somit bilden sie ein abgeschlossenes Ganzes, decken den gesamten Harmo niezyklus ab, in dessen Mittelpunkt der Gedanke der Menschwerdung und die Kreuzigung Christi stehen, für die Schubert im Credo nach As-Dur modu liert. Diese Struktur verdeutlicht den überlegten, aber individuellen Umgang des Komponisten mit der Symbolik der Tonarten, wie sie im 19. Jahrhundert galt. Eine der erstaunlichsten Folgen dieses Vorgehens ist der Übergang vom Kyriezum Gloria, das in E-Dur notiert ist-lautSchubart die Tonart, die »lau tes Aufjauchzen, lachende Freude« versinnbildlicht der Zuhörer aber als die enharmonisch umgedeutete Tonart Fes-Dur wahrnimmt. Die daraus ent stehende Ambivalenz zwischen der tatsächlichen Notierung der Musik und der Art, wie sie gehört wird, ist so typisch für viele Passagen dieser Messe, dass man sich fragt, ob Schubert aus der Musik vielleicht eine Antwort auf seine Fragen hervorlocken wollte - eine Antwort, die die Musik in all ihrer Komplexität nicht unzweideutig zu geben bereit ist. Das Kyrie endet mit einem Fragezeichen und vermittelt dadurch nicht das übliche Gefühl uneingeschränkten Vertrauens. Da es Motive aus dem Kyrie und Christe assimiliert, besteht es aus fünf Teilen, zwei mehr als die drei teilige Form, die herkömmlich mit dem die Dreieinigkeit symbolisierenden Satz verbunden wird. Diese Art einer sinfonischen Entwicklung findet sich häufiger in dieser Messe, wo sie - wie beim »Gratias agimus« - eindeu tig dem Zweck dient, Ähnlichkeiten zwischen sonst antithetischem Mate rial aufzuzeigen. Die Bedeutung, die dem Orchester bei der Interpretation des Kyrie-Textes zukommt, tritt in späteren Sätzen noch deutlicher zu Tage, insbesondere im Credo, in dem Schubert einige Wörter der Vokallinie dem Orchester als Stimme der absoluten Musik überträgt. Damit greift er nicht nur auf die Jahrhunderte alte Tradition der Antiphonie zurück, sondern er weist sich auch als Komponist, der mit dem Konzept der Musik als etwas Absolutem seiner Zeit weit voraus war.