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Joseph Haydn Missa in Angustiis D-Dur Hob. XII: 11 „Nelson-Messe“ Es waren harte Zeiten für die Menschen in Europa. Mit immer neuen Kriegen und verlustvollen Ausei nandersetzungen überzog Napoleon den alten Kon tinent und markierte die Grenzen zwischen Völkern neu. Große alte Reiche wurden zerschlagen, zahl reiche kleine neue per Federstrich geschaffen. Und was die Heere bei ihren Beutezügen in den Städten und Dörfern bei den Bauern, Handwerkern und klei nen Leuten verschont oder übersehen hatten, fiel marodierenden Banden, brandschatzenden Bandi ten oder dem Wetter zum Opfer. Auch in der von allen Seiten bedrängten k.-u.-k.-Monarchie mach ten sich die Turbulenzen bis in die tiefste Provinz bemerkbar und sorgten bei den einfachen Men schen, aber auch in höher gestellten Kreisen für große Verunsicherung und Ängste. Selbst in der idyllischen Weltabgeschiedenheit im österrei chisch-ungarischen Grenzland um Eisenstadt, wo die Grafen von Esterhazy seit Jahrhunderten ihr Stammschloss hatten, wirkten sich die dramati schen Vorgänge auf der politisch-militärischen Weltbühne aus. Die Menschen hatten Angst - um Hab und Gut, um Leib und Leben. Es ist dies die Zeit, in der Joseph Haydn zwischen dem 10. Juli und dem 31. August 1798 die dritte sei ner späten sechs Messen komponiert. Er selbst hat das Werk, das über weite Teile in der ungewöhn lichen Tonart d-Moll gehalten ist, auf dem Titelblatt des Autographs als „Missa“ bezeichnet, doch im so genannten Entwurfskatalog, Haydns eigenem Werk verzeichnis, trägt es den Titel „Missa in Angustiis“, also Messe in Bedrängnis, Not und Gefahr. Auch dies also, wie im Falle von Antonio Salieris „Kriegs messen“ oder Hector Berlioz’ „Requiem“, ein Bei spiel dafür, dass äußere Ereignisse sehr wohl künst lerisch aufgegriffen und auf diese Weise verarbeitet und sublimiert werden konnten. Wie alle späten Messen, die Haydn zwischen 1796 und 1802 schrieb, hat er auch dieses Werk im Auf trag des Fürsten Nikolaus Esterhazy, seines Arbeit gebers, zur Feier des Namenstages von dessen Gemahlin, der Fürstin Maria Josepha Hermenegild, komponiert. Die Uraufführung fand jedoch nicht, wie zu erwarten, am 9. September, sondern erst am 23. September 1798 in der Eisenstädter Berg kirche statt, wie ein Zeitzeuge, der Sekretär Peter Rosenbaum, in seinen Aufzeichnungen überliefert hat. Aber ein anderer Beiname für das Werk hat sich schon zu Lebzeiten des Komponisten einge bürgert und bis heute gehalten: Nelson-Messe. Dass der berühmte englische Admiral, der in der Seeschlacht von Abukir zwischen dem 1. und dem 3. August 1798 die französische Flotte vernichtend schlug (die zuvor Napoleons Invasionstruppen nach Ägypten transportiert hatte), im Titel der Messe verewigt wird, hat zu der Deutung verleitet, Haydn habe mit dieser Messe Nelsons Sieg verherrlichen wollen. Dem widerspricht eigentlich schon die authentische Bezeichnung „Missa in Angustiis“. Auch soll nach neueren Forschungen die Nachricht vom Siege Nelsons erst im September 1798, also nach Vollendung der Messe, in Wien bekannt geworden sein. Andererseits beruft sich ein 1800 erschienener Bericht auf ein Gespräch mit Haydn selbst, der, während der Arbeit am Benedictus von dem blasenden Kurier, der die Siegesnachricht dem Fürsten Esterhazy überbracht habe, so beeindruckt gewesen sei, dass er „die obligate Trompete dazu gesetzt habe“. Tatsächlich sind es aber drei Trom peten, die schon in den ersten Takten des Kyrie obligat eingesetzt sind und dem Benedictus mit ihren sich immer mehr verdichtenden Fanfarenstö ßen - im kontrastreichen Wechsel zu innig verhal tenen Solopartien - seinen glänzenden Charakter verleihen.