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Humanität könnten als Wegweiser dienen in einer Zeit, in der es gar nicht leicht ist, die rich tige Orientierung zu fin den, in der das Hu mane nicht unterliegen \ darf. Mahlers 6. Sinfonie, in den Jahren 1903 und 1904 entstanden, ist mit dem Beinamen „Die Tragische" bekannt geworden. Nach Bruno Walter geht das düstere Epitheton auf Mahler selbst zurück. Sicher ist jedenfalls, daß die Sin fonie schon zu Mahlers Lebzeiten mit diesem Beinamen aufgeführt wurde und daß das Epitheton den Gehalt des Werkes treffend charakterisiert. Sie ist die einzige Sinfonie Mahlers, die weder „sieghaft" (wie die Erste, Zweite, Fünfte, Siebente und Achte) noch „ver klärend" (wie die Dritte, Vierte und Neunte), sondern düster schließt. Für den Gesamt eindruck, den das Werk auf den Hörer macht, ist die Koda des Finales maßgeblich, genauer: ein imitatorisch gehaltener Satz der Posaunen und der Baßtuba bei Paukenwirbel trägt aus geprägten Requiemcharakter. Nicht minder be zeichnend ist, daß Mahler für das Finale einen Hammer vorschreibt, der in der ersten Fassung an drei Stellen fällt. Alle jene, die plumpe Scherze über diesen Klangeffekt machen zu müssen meinten, haben die tiefe tonsymbolische Bedeutung des Hammers völlig verkannt. Das, was Mahler dabei vorschwebte, war - wie Paul Bekker richtig erkannte - „die Andeutung des Eingreifens von etwas Außerweltlichem, etwas Übermächtigem, Schicksalhaftem, etwas, gegen dessen niederschmetternde, übernatürliche Wirkung der Mensch nicht mehr ankämpfen kann." GUSTAV MAHLER Bedenkt man, daß zahlreiche tonsymbolische Züge in der Sechsten auf semantische Inten tionen hindeuten, so muß es seltsam berühren, daß das Werk vielerorts als absolute Musik betrachtet wurde. Seit Theodor W. Adorno begegnet man oft der Ansicht, daß die groß artige „Formimmanenz" der Sechsten ihren „Gehalt" bilde. In Wirklichkeit ordnet sich die Sechste - zusammen mit Tschaikowskis 6. Sinfonie (1893) und Richard Straussens „Heldenleben" (1898) und „Sinfonia do- mestica" (1903) - in die Reihe der großen sinfonischen Werke ein, die autobiographisch konzipiert sind. Alma Mahler bezeugt in ihren Erinnerungen, daß die Sechste auf einer auto- biographisch-programmatischen Konzeption ba siert. Die Arbeit daran nahm Mahler im Sommer in Maiernigg am Wörthersee auf, und am Ende der Sommerferien 1904 spielte er Alma „die nun vollendete" Sechste vor: „Wir gingen wieder Arm in Arm in sein Waldhäuschen