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der Zeit mache. Nirgends finde man - so fügte er hinzu - bei Mahler etwas, was „Mode" wäre. Deshalb konnte er seiner Zeit als Komponist nichts sein. Um so mehr werde die Zukunft von ihm haben. Seine Zeit würde kommen. Mahler selbst war sich der Bedeutung seines Schaffens voll bewußt, doch zweifelte er daran, ob er „seine Zeit" erleben werde. Ende November 1904 fragte er in einem Brief: „Muß man denn immer erst tot sein, bevor einen die Leute leben lassen?" Zeit seines Lebens stand Mahler als Komponist im Schat ten seines weit berühmteren Freundes und Rivalen Richard Strauss. Während die sen sationellen sinfonischen Dichtungen und die Literaturopern „Elektra" und „Salome" von Strauss bei weiten Kreisen Bewunderung er weckten, war Mahler als Dirigent zwar an erkannt, als Komponist jedoch umstritten. Manche hellsichtige Kritiker hatten allerdings erkannt, daß das Verhältnis sich im Laufe der Zeit ändern würde. So formulierte Ernst Otto Nodnagel den Satz: Strauss hat die Gegen wart, Mahler gehört die Zukunft. Nodnagels Voraussage hat sich bewahr heitet. Heute erfreuen sich die Sinfonien Mahlers weit größerer Beliebtheit als die Ton dichtungen seines einst berühmteren Anti poden. Nach jüngeren Statistiken liegt Mahler in der Gunst des Publikums vom, gleich hinter Mozart, Beethoven und Brahms und vor Haydn, Dvorak und Tschaikowski. Seit 1960 erlebte seine Musik eine beispiellose Renais sance - eine Popularität, die bis heute anhält und für die es keine Parallelen gibt. Viele Menschen sehen in Gustav Mahler eine Identifikationsfigur, einen Künstler, dessen tief bewegende Musik den Nerv unserer Zeit trifft und unserer Sehnsucht nach Emotion, Schönheit und einem tieferen Lebensgefühl ent gegenkommt. In einer Zeit, in der die Mensch heit ihre Probleme noch nicht bewältigt hat, in der Gleichgültigkeit und Passivität sich breit machen, in der der Mensch Gefahr läuft, vor der Technologie zu kapitulieren, stillt die Musik, zumal die Musik Mahlers, unser Bedürf nis nach einer besseren, einer idealen Welt. Bezeichnenderweise geht die Mahler-Renais sance einher mit einem gesteigerten Interesse an dem Jugendstil, an der Wiener Secession und insbesondere an den schönen Bildern von Gustav Klimt. Thomas Mann hat von Arthur Schopenhauer gemeint, daß seine Philosophie „nicht nur Sache des Kopfes, sondern des ganzen Men schen mit Herz und Sinn, mit Leib und Seele" sei. Ähnliches könnte man von Gustav Mahler sagen. Mahlers Musik ist Ausdruck, Spiegel des ganzen Menschen und sie wendet sich auch an den ganzen Menschen. Sie ist nicht nur Kunst fürs Ohr, sondern auch für das Herz und den Verstand. Sie affiziert Sinne, Seele und Hirn. Im Sommer 1904 schrieb Mahler an seinen jüngeren Freund Bruno Walter: „Daß unsere Musik das ,rein Menschliche' (alles was dazu gehört, also auch das ,Gedankliche') in irgendeiner Weise invol viert, ist ja doch nicht zu leugnen. Es kommt wie in aller Kunst, eben auf die reinen Mittel des Ausdrucks an, etc. etc. Wenn man musi zieren will, darf man nicht malen, dichten, beschreiben wollen. Aber was man musiziert ist doch immer der ganze (also fühlende, denkende, atmende, leidende etc.) Mensch." Diese Sätze reflektieren Eindrücke, die Mahler nicht zuletzt von der Lektüre der Schriften Richard Wagners empfing. Im Mittelpunkt der Musikauffassung beider steht das „Rein menschliche", steht der ganze Mensch. Behält man das im Auge, so wird verständlicher, daß Mahlers Musik nicht nur ästhetisches Ver gnügen bereitet, sondern auch eine Botschaft verkündet. Sicher ist, daß die Sinfonik Mahlers einen Kosmos, ein Universum bildet, das nahezu alle musikalischen Charaktere umfaßt. Immer wieder entdeckt man in seinen Wer ken Keime, die viel später zum Tragen kamen. Mehreren Komponisten der Avantgarde ist das antizipatorische Moment an Mahler wichtig, das von der Neuen Musik eingelöst wurde. Gustav Mahler als künstlerische Persönlich keit war und ist die Personifikation des Un erbittlichen, Kompromißlosen, die Personifika tion äußerster Konsequenz. Der Geist seiner Musik, ihre Ausdruckskraft und vor allem ihre